Das Schweigen brechen

Die Einleitung zu dem Buch «Unsere Opfer zählen nicht» in gekürzter Fassung, abgedruckt in der Frankfurter Rundschau

Als der Zweite Weltkrieg begann, war Großbritannien die größte Kolonialmacht und verfügte über ein Imperium, das ein Viertel der Erde sowie ein Viertel der Weltbevölkerung umfasste und sich von Jamaika und Lateinamerika über Ostafrika und Indien bis nach Südostasien und in den Zentralpazifik erstreckte. Die französischen Kolonien in der Karibik, Nord- und Westafrika, Indochina, Melanesien und Polynesien waren zusammengenommen zwanzigmal größer als Frankreich und hatten mehr als einhundert Millionen Einwohner. Mit Libyen, Eritrea und Somaliland herrschte auch die faschistische Regierung Italiens bei Kriegsbeginn in Afrika über ein Kolonialgebiet, das um ein Vielfaches größer war als das eigene Land. Die Kolonie Niederländisch-Indien (Indonesien) hatte die Größe Westeuropas. Die USA hielten die Philippinen und militärstrategisch bedeutsame Inseln im Pazifik wie Guam und Hawaii Formosa (Taiwan) und die Mandschurei. Deutschland hatte seine Kolonien in Afrika und der »Südsee« zwar nach dem Ersten Weltkrieg an die Siegermächte abtreten müssen, doch ihre Rückgewinnung und die Eroberung weiterer Kolonialgebiete gehörten zu den erklärten Kriegszielen des NS-Regimes. Schon nach der verheerenden Niederlage Frankreichs im Juni 1940 gewann Nazideutschland Einfluss auf die französischen Kolonien, die unter der Kontrolle der Kollaborationsregierung in Vichy standen, und bezog aus ihnen Rohstoffe für seine Rüstungsindustrie. Auch die Bündnispartner des NS-Regimes suchten im Zweiten Weltkrieg ihre Kolonialreiche auszubauen. Nach dem italienischen Überfall auf Äthiopien träumte Mussolini von der Wiedergeburt eines «Imperium Romanum» in Ostafrika, und Japan hoffte, mit seinen Feldzügen in China, Südostasien und der Pazifikregion ein »großost­-siatisches Reich» begründen zu können. Im Kampf gegen die faschistischen Kriegstreiber bezogen auch die Alliierten ihre Kolonien von Anfang an in den Zweiten Weltkrieg mit ein. Die kolonialisierten Länder mussten nicht nur kriegswichtige Rohstoffe zu Spottpreisen abgeben, sondern stellten auch Millionen Soldaten sowie (Zwangs-)Arbeiter und Arbeiterinnen für die alliierten Streitkräfte. Ohne den Beitrag der Kolonialisierten hätte der Zweite Weltkrieg einen anderen Verlauf genommen und die Befreiung der Welt vom deutschen und italienischen Faschismus sowie vom japanischen Großmachtwahn wäre noch schwerer und langwieriger gewesen. Weite Teile der so genannten Dritten Welt – von der lateinamerikanischen Küste über West- und Nordafrika, den Nahen Osten, China, Indien und Südostasien bis zu zahlreichen Inselgruppen im Stillen Ozean – waren auch Kriegsschauplätze. Dabei geriet die einheimische Bevölkerung nicht selten zwischen die Fronten und sah sich zu Kriegsdiensten aller Art gezwungen. Millionen Opfer und schwere Zerstörungen in den betroffenen Ländern waren die Folge. Allein bei der Befreiung der philippinischen Hauptstadt Manila von den japanischen Besatzern kamen 100.000 Zivilisten ums Leben, und in China starben im Zweiten Weltkrieg mehr Menschen als in den Ländern der faschistischen Achsenmächte zusammen. Soldatenfriedhöfe, Kriegsgräber und Denkmäler für Gefallene in allen Kontinenten zeugen von den Opfern des Zweiten Weltkriegs in aller Welt. Sie finden sich rund um den Globus: in Rio de Janeiro wie in Montevideo, in Algier wie in Tunis, in Burkina Faso und in Äthiopien, im Dschungel von Burma und in den philippinischen Bergen, auf den Marianen-Inseln und auf Tahiti. Trotzdem tauchen die Kriegsopfer aus der Dritten Welt in den gängigen Statistiken über die «Menschenverluste» des Zweiten Weltkriegs nicht auf. Denn die Kolonialherren haben sie entweder gar nicht erst gezählt oder den eigenen Verlusten zugeschlagen und damit unkenntlich gemacht. Erst nach ihrer Unabhängigkeit konnten die Kolonialisierten ihre Versionen der (Kriegs-)Geschichte aufarbeiten und niederschreiben. Es ist deshalb kein Zufall, dass in vielen Ländern der Dritten Welt erst in den siebziger Jahren historische Werke über den Zweiten Weltkrieg und Memoiren von Kolonialsoldaten erschienen. Nicht wenige davon waren motiviert von der Ignoranz der Kolonialmächte gegenüber den Veteranen und den Hinterbliebenen der Kriegsopfer. (…) Anlässlich des 50. Jahrestags des Kriegsendes fanden 1995 in vielen Ländern der Dritten Welt Ausstellungen, Veranstaltungen, Paraden, Konferenzen und Symposien statt. Regisseure aus dem Senegal, Ghana und Gabun drehten Spielfilme und Dokumentationen über das Thema, und Schriftsteller aus Afrika und Asien verarbeiteten ihre Kriegserfahrungen in Romanen. Veteranenverbände aus Ländern der Dritten Welt sorgten mit dafür, dass das Thema in den neunziger Jahren endlich eine bescheidene Öffentlichkeit fand. Danach konnten die Regierungen der ehemaligen Kolonialmächte die Einsätze ihrer Kolonialsoldaten im Krieg nicht länger totschweigen. So sah sich die britische Regierung im November 2002 (57 Jahre nach Kriegsende!) veranlasst, in London ein erstes Denkmal für die Soldaten aus Indien, Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka, Afrika, der Karibik und dem Königreich Nepal einzuweihen, die für das Empire in den Krieg gezogen waren. Und zum 60. Jahrestag der alliierten Landung in der Provence im August 2004 lud der französische Präsident Jacques Chirac zwanzig Staatschefs und Regierungsvertreter sowie Hunderte Kriegsveteranen aus Afrika ein, eine »symbolische Geste«, zu der Frankreich bis dahin nicht bereit gewesen war. Den Historikern, Publizisten und Medien in Deutschland dagegen, dem Land, das die Hauptverantwortung für den Zweiten Weltkrieg und damit auch für die Opfer der Dritten Welt trägt, waren die Kolonialisierten weiterhin nicht der Rede wert. Dabei hat auch die deutsche Wehrmacht Hunderttausende Soldaten aus Nordafrika, dem Nahen Osten, Indien und den besetzten Provinzen im Süden der Sowjetunion an der Front eingesetzt. Und die Befreiung Deutschlands vom Faschismus war nicht zuletzt den Millionen Menschen aus der Dritten Welt zu verdanken, die dafür ihr Leben riskierten oder gefallen sind. Unter denen, die 1945 das letzte Aufgebot der faschistischen Wehrmacht niederrangen und dem Naziregime endlich ein Ende bereiteten, waren Soldaten aus Nord-, West-, Ost- und Südafrika, Araber und Juden aus Palästina, Inder und Pazifikinsulaner, Aborigines und Maoris, Mexikaner und Brasilianer, Afroamerikaner und Native Americans. Aber in der deutschen Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg kommen sie kaum vor. Auch der Medienboom zum 60. Jahrestag des Kriegsendes (in Europa) am 8. Mai 2005 hat daran nichts geändert. (…) Die Geschichte wird gegebenenfalls so verdreht, dass die Millionen Soldaten, Zwangsarbeiter und Zwangsprostituierten aus den kolonialisierten Ländern gar nicht erst erwähnt werden müssen. Die Fernsehdokumentation Von Hawaii nach Iwo Jima – Der Krieg im Pazifik in der von Guido Knopp betreuten Reihe ZDF-History, ausgestrahlt am 4. September 2004, ist ein Beispiel dafür. Darin wurde behauptet, die meisten der im Zweiten Weltkrieg umkämpften pazifischen Inseln seien »unbewohnt« gewesen. Folglich kam in der 45-minütigen Sendung auch kein einziger Insulaner zu Wort. Tatsächlich jedoch fanden die zentralen Schlachten des Pazifikkriegs in Papua-Neuguinea und auf den Salomonen statt. Auf diesen südpazifischen Inseln lebten damals Millionen Menschen, Zehntausende Insulaner mussten als Soldaten und Zwangsarbeiter für die Kriegsparteien herhalten und Tausende kamen dabei um. Auch auf vielen Inseln des Zentralpazifiks und im nordpazifischen Mikronesien hinterließ der Zweite Weltkrieg eine Spur der Zerstörung und viele Opfer. Den ZDF-Historikern waren sie kein Wort und kein Bild wert. Sie beschränkten sich stattdessen auf die sattsam bekannten und immer gleichen Archivaufnahmen von US-amerikanischen Kriegsschiffen und japanischen Flugzeugträgern, US-amerikanischen Marine-Soldaten und japanischen Kamikaze-Piloten, unterlegt mit dramatischer Musik. Kritiker haben diese Machart zurecht als «Geschichtspornographie» bezeichnet. Die ZDF-Autoren übersprangen einfach die entscheidenden Jahre des Pazifikkrieges (1942 und 1943) und gingen vom japanischen Angriff auf die US-Flotte Ende 1941 gleich zum Vormarsch der US-amerikanischen Streitkräfte auf das japanische Festland in der Schlussphase des Krieges 1944/45 über. (…) Schon die zeitliche Begrenzung des Zweiten Weltkrieges auf die Jahre 1939 bis 1945 ist eurozentristisch. In Afrika begann der Krieg 1935 mit dem Einmarsch der Italiener in Äthiopien. 1937 hatte Japan neben Korea bereits die Mandschurei besetzt und dehnte seinen Krieg gegen China nach Süden aus. Als die Achsenmächte 1945 endlich kapitulierten, war der Krieg in vielen Länder der Dritten Welt auch noch nicht zu Ende. In Algerien massakrierten französische Truppen am 8. Mai 1945, der als «Jahrestag der Befreiung» bis heute in Frankreich gefeiert wird, Zehntausende Demonstranten, die für die Unabhängigkeit des Landes demonstrierten. In Hanoi rief Ho Chi Minh zwar schon nach der Kapitulation der japanischen Besatzungsmacht im September 1945 die Unabhängigkeit Vietnams aus, aber Frankreich und die USA versuchten, sie in einem dreißigjährigen Krieg wieder rückgängig zu machen. Auf den Philippinen setzten Partisanen, die nach dem Abzug der US-amerikanischen Streitkräfte 1942 drei Jahre lang alleine den japanischen Besatzern Widerstand geleistet hatten, ihren Befreiungskampf 1945 nahtlos gegen die alten und neuen Kolonialherren aus den USA fort. Und auch in China endete der Krieg erst 1949 mit dem Sieg der revolutionären Volksarmee Mao Tse-tungs über die Truppen Chiang Kai-sheks. Allerdings waren die Kolonialisierten im Zweiten Weltkrieg nicht bloß Opfer. Einige nationalistische und antikoloniale Bewegungen in der Dritten Welt sympathisierten offen mit der faschistischen Kriegsallianz, und Hunderttausende Kolonialsoldaten zogen freiwillig für sie an die Front. So dünn die deutschsprachige Literatur zum Thema ansonsten auch ist, so vergleichsweise groß ist die Zahl der Beiträge, in denen das Verhalten von Kollaborateuren aus der Dritten Welt untersucht und nicht selten verteidigt wird. So suchen einige Autoren zum Beispiel zu entschuldigen, warum sich hohe arabische Politiker den Nazis angedient haben. Selbst die Auseinandersetzung mit der aktiven Beteiligung des höchsten palästinensischen Funktionärs jener Zeit, des Großmuftis von Jerusalem Amin al-Husseini, am Holocaust scheint manchen deutschen Islamwissenschaftlern und Teilen der Palästina-Solidarität eher lästig denn notwendig. «Asienexperten» ignorieren den faschistischen Führerkult, den Thailands langjähriger Militärdiktator Phibun in den vierziger Jahren aus Europa importierte, ebenso wie die Unterstützung der japanischen Kriegführung durch hochrangige Funktionäre der indonesischen Befreiungsbewegung. Und selbst der «Indischen Legion» der deutschen Wehrmacht können deutsche Autoren positive antikoloniale Züge abgewinnen, obwohl sich die dafür rekrutierten Inder 1944 in die Waffen-SS eingliedern ließen und für Massaker an der Zivilbevölkerung in Frankreich verantwortlich sind. Die Verharmlosung der Kollaboration ist so frappierend, weil es in all den genannten Ländern auch antikoloniale Kräfte gab, die jede Kollaboration mit Faschisten strikt ablehnten und deren rassistische Politik anprangerten. (…) Der Umgang mit den vergessenen Kriegsopfern aus der Dritten Welt ist ein Beispiel für das, was der nigerianische Nobelpreisträger für Literatur Wole Soyinka «Kultur der Straflosigkeit» nennt: Hinterbliebenen gefallener Kolonialsoldaten wurden Pensionen verwehrt. Zahllose Zwangsarbeiter und Zwangsprostituierte erhielten nie eine Entschädigung. Kriegsverbrechen wie die Massaker der deutschen Wehrmacht an afrikanischen Kolonialsoldaten in Chasseley, der französischen Streitkräfte an westafrikanischen Kriegsheimkehrern im senegalesischen Thiaroye und der Japaner an der Zivilbevölkerung im chinesischen Nanking blieben ungesühnt. Millionen Opfer von Hungerkatastrophen, die in Folge des Zweiten Weltkriegs in Nordvietnam, Bengalen und Ostafrika ausbrachen, sind vergessen. Für die Schäden, die sie mit ihrem Krieg in vielen Ländern Nordafrikas, Asiens, Ozeaniens und an der Küste Lateinamerikas anrichteten, haben die Verursacher aus den Achsenmächten nie angemessene Reparationszahlungen leisten müssen. Aber auch die Alliierten verwehrten den kolonialisierten Ländern nach Kriegsende die Unabhängigkeit und rekrutierten weiterhin Kolonialsoldaten für ihre Kriege. (…) Das Autorenkollektiv Die Recherchen über die Rolle der Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg begannen schon vor zehn Jahren, im Rheinischen JournalistInnenbüro in Köln. Seitdem haben die Mitglieder dieses Autorenkollektivs (derzeit sind das: Birgit Morgenrath, Albrecht Kieser, Gerhard Klas und Karl Rössel) in dreißig Ländern Afrikas, Asiens und Ozeaniens Augenzeuginnen, Kriegsveteranen, Sozialwissenschaftlerinnen und Historiker interviewt sowie Literatur, Fotos und Dokumente zum Thema gesammelt. 1999 gründete sich mit Recherche International e.V. ein Verein, der die Förderung investigativer Recherchen in der Dritten Welt im Allgemeinen und dieses Buches im Besonderen zu seinem Anliegen machte und Anfang 2003 die Nordrhein-Westfälische Stiftung für Umwelt und Entwicklung dafür gewann, das Projekt zu unterstützen. Dies ermöglichte es dem Autorkollektiv, sein umfangreiches Recherchematerial auszuwerten, Experten zu bestimmten Regionen (von China bis Lateinamerika) zur Mitarbeit zu gewinnen und bestehende Lücken zu schließen. Dabei betonen die MitarbeiterInnen des Rheinischen JournalistInnenbüros in ihrer Einleitung, dass sie ihr Buch lediglich als «einen ersten, sicherlich unvollkommenen Versuch» ansähen, sich diesem vergessenen Thema zu nähern. Aber sie hoffen, dass es dazu beiträgt, «endlich eine wissenschaftliche, publizistische und politische Auseinandersetzung mit den dramatischen Folgen des Zweiten Weltkriegs für die Dritte Welt» zu initiieren.

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