Vorlesung: Verdrehte Geschichte
Die Ausblendung der Dritten Welt aus der Historiographie des Zweiten Weltkriegs am Beispiel Afrikas
Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Europas Afrika“
am Historischen Seminar der Universität Luzern am 1. März 2011
Karl Rössel (Rheinisches JournalistInnenbüro)
Die Ausblendung der Dritten Welt aus der Historiographie des Zweiten Weltkriegs begründet Professor Kuma Ndumbe, Politikwissenschaftler aus Kamerun, so:
„Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs erweist sich, wie jede Geschichte, als die der Sieger, aber auch als die der Besitzenden und Wohlhabenden. Deutschland und Japan gehören trotz ihrer militärischen Niederlage in der Geschichtsschreibung zu den Siegern, denn auch wenn die Historiographie in den beiden Ländern eine kritische Befragung und Korrekturen hinnehmen musste, werden sie doch als Menschen gleichen Ranges wahrgenommen. Diejenigen aber, die nach dem Krieg vergessen wurden, als ob sie während des Krieges gar nicht existiert hätten, die mit ihren eigenen Kindern die Geschichte neu erlernen müssen, ohne eigene Taten in dieser Geschichtsschreibung wiederzufinden, gehören zu den eigentlichen Verlierern. Verlierer und ohne eigene Stimme, so leben bis heute noch Hunderte Millionen Menschen mit ihren Nachkommen in Afrika, Asien, Lateinamerika, in Australien und in der Pazifikregion…“
Diese Zitat ist auch im Epilog der Ausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ nachzulesen. Es verweist darauf, dass die ökonomisch dominanten Mächte nicht nur die Geschichte des Zweiten Weltkriegs bestimmt haben, sondern auch die anschließende Geschichtsschreibung darüber. Denn als dieser Krieg begann und als er endete war die Welt noch weitgehend kolonialisiert.
Alle kriegführenden Mächte nutzen Kolonien für ihre militärischen Zwecke. Dennoch hat die strategische Bedeutung der Kolonialgebiete für den Verlauf und Ausgang des Zweiten Weltkriegs in der Geschichtsschreibung nicht die Beachtung gefunden, die ihr gebührt. Der Kameruner Politikwissenschaftler Professor Kuma Ndumbe erklärt das so:
„Die Forscher aus den wohlhabenden Staaten unterliegen bewusst oder unbewusst einem stillen Rassismus, der sie dazu führt, Geschehnisse außerhalb ihres eigenen ‚Wohlstandszentrums’ als wenig relevant für ihre Arbeit zu betrachten. So entsteht eine Literatur über den Zweiten Weltkrieg, die sich hauptsächlich mit den reichen Nationen befasst. Wer die Mittel besitzt, bestimmt auch die Themen, Theorien und Richtungen der Forschung. Opfer aus der Peripherie zählen deshalb nicht. Und die Opfer selbst lesen und lernen die von den Zentren der Wohlhabenden veröffentlichte und weltweit verbreitete Literatur zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und erkennen ihre eigene Geschichte darin nicht wieder.“
Die Hälfte der Geschichte ausgeblendet
Tatsächlich sind in Büchern, Filmen und Zeitungsberichten über die Befreiung Europas vom Naziterror bis heute meist nur Bilder US-amerikanischer, französischer, britischer und russischer Soldaten zu sehen und fast durchweg sind es Bilder von Weißen. Fotos von schwarzen Kriegsteilnehmern sind seltene Ausnahmen von dieser Regel, obwohl allein in den US-Streitkräften mehr als eine Million Afroamerikaner Kriegsdienste leisteten. Wurden ihre Einsätze im Zweiten Weltkrieg in der Geschichtsschreibung schon weitgehend ignoriert, so blieben die von Kriegsteilnehmern aus Afrika, Asien, Ozeanien, Süd- und Mittelamerika erst recht außen vor.
Dabei geht es hierbei nicht um Marginalien, die vielleicht hätten übersehen werden können, sondern um ein zentrales, wenn auch vergessenes Kapitel der Geschichte. Schließlich stellte die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg mehr Soldaten als Europa und hatte mehr Kriegsopfer zu beklagen als Deutschland, Italien und Japan zusammen.
Weite Teile der Dritten Welt dienten auch als Schlachtfelder: von der lateinamerikanischen Küste über West-, Nord- und Ostafrika und den Nahen Osten bis nach Asien und zu den pazifischen Inseln.
Auf allen Kontinenten requirierten die kriegführenden Mächte Nahrungsmittel für ihre Truppen und Rohstoffe für ihre Rüstungsproduktion, was weitreichende Folgen für die betroffenen Länder und ihre Bewohner hatte, Folgen, die vielerorts noch heute nachwirken. Das gilt auch und insbesondere für den Kontinent Afrika.
Joseph Ki-Zerbo, Historiker aus Burkina Faso, sagte dazu in einem Interview, das ich im Rahmen unserer Recherchen in Ouagadougou mit ihm führte: „Kein Ereignis seit dem Sklavenhandel und der Zerstückelung des Kontinents durch die Grenzziehungen der Kolonialmächte bei der Berliner Konferenz im Jahre 1884 hatte so verheerende und nachhaltige Folgen für Afrika wie der Zweite Weltkrieg“.
Europas Afrikabilder
Joseph Ki-Zerbo verfasste in den 1960er Jahren die erste Geschichte seines Kontinents aus afrikanischer Sicht und räumte darin gründlich mit dem in Europa weit verbreiteten Vorurteil auf, Afrika sei vor Beginn der Kolonisation ein „geschichtsloser Kontinent“ gewesen. In der Einleitung seines Buches zitiert Ki-Zerbo zahlreiche Belege für die ignorante, von kolonialer Überheblichkeit geprägte, oft unverblümt rassistische Haltung, die europäische Dichter und Denker dem afrikanischen Kontinent über Jahrhunderte entgegenbrachten. So – um nur ein Beispiel zu nennen – der deutsche Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel. In dessen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ von 1830 es heißt:
„(Afrika) ist kein geschichtlicher Weltteil, es hat keine Bewegung und keine Entwicklung aufzuweisen, und was etwa in ihm, das heißt, in seinem Norden, geschehen ist, gehört der asiatischen und europäischen Welt zu… Was wir eigentlich unter Afrika verstehen, das ist das Geschichtslose und Unaufgeschlossene, das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist, und das hier bloß an der Schwelle der Weltgeschichte vorgeführt werden musste.“ (Ki Zerbro, S. 24)
Abfällige Haltungen wie diese prägten das europäische Bild von Afrika auch in der Geschichtswissenschaft bis in die jüngste Vergangenheit. So beschrieb – laut Ki-Zerbo – noch 1957 ein Historiker in der „Revue de Paris“ Afrika als „Land ohne Geschichte“. Und ein halbes Jahrhundert später klang dies 2007 noch immer in einer Rede nach, die der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy bei seiner ersten Afrika-Reise als Präsident in Dakar hielt und in der er behauptete, dass „der afrikanische Mensch nur unzureichend die Geschichte betreten“ habe.
Auf den 750 Seiten seines Buches weist Ki-Zerbo nach, dass die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung in Afrika der auf anderen Kontinenten tatsächlich lange Zeit weit voraus war. Laut Ki-Zerbo waren die Jahrhunderte vom 12. bis zum 16. die „große“ Zeit Afrikas. Damals entstanden in vielen Teilen des Kontinents Gesellschaften mit vergleichsweise hoch entwickelter Technik und Wirtschaft sowie einem reichen kulturellen Leben. Aber dann seien die Plünderer und Sklavenjäger aus Europa in Afrika eingefallen, die mit Hilfe geistlichen und den Geist vernebelnden Gifts, sprich: mit christlichen Missionaren und alkoholischen Getränken, die großen Reiche Afrikas bis in ihre Grundfesten erschüttert hätten.
In traditioneller Gastfreundschaft hätten die Afrikaner die ersten Europäer empfangen. Ein folgenschwerer Fehler, der darauf beruhte, dass die skrupellose Gier der europäischen Eindringlinge nach Gold, Macht und Sklaven jenseits jeglichen Vorstellungsvermögens lag.
Da verpflichtete sich eine portugiesische Handelsgesellschaft – Zitat – „10.000 Tonnen Neger“ zu liefern. Da entrissen weiße Händler Sklavinnen ihre Kinder, um sie den Hyänen zum Fraß vorzuwerfen. Da wurden Männer und Frauen vor dem Verkauf gemästet und mit Arzneien vollgestopft, damit sie auf den Sklavenmärkten höhere Preise erzielten. Die Sklavenschiffe waren, so Ki-Zerbo, mit einer „speziellen Ausrüstung an Fesseln, Nieten und Ketten, Decks und Zwischendecks versehen, um die menschliche Ladung mit dem geringsten Platzverlust unterbringen zu können“. Bei der Überfahrt nach Amerika wurden die Verschleppten mit Peitschenhieben gezwungen, auf Deck für ihre weißen Bewacher zu tanzen. Und wer unterwegs krank wurde oder starb, wurde einfach über Bord geworfen. „Man darf annehmen, dass Afrika seit dem 15. Jahrhundert mindesten 50, wahrscheinlich aber um 100 Millionen Menschen verloren hat,“ schreibt Ki-Zerbo. Von diesem „Aderlass“ habe sich der Kontinent nie mehr erholt. Der ganze Reichtum Europas dagegen basiere darauf: Denn der Sklavenhandel brachte europäischen Handelsgesellschaften Gewinnsteigerungen von 300 bis 800 Prozent und schuf damit die finanzielle Grundlage für die Industrialisierung Europas. Diese ermöglichte auch die Produktion neuartiger Waffen und begründete damit letztlich auch die militärische Überlegenheit der europäischen Invasoren in Afrika. Wo immer die europäischen Eroberer auf dem Kontinent eindrangen, rekrutierten sie einheimische Helfershelfer und Soldaten für ihre Feldzüge. Die Zwangsrekrutierungen trugen, so Ki-Zerbo, noch dazu bei, die „allgemeine miserable Lage zu verschlimmern.“
Afrikanische Kolonialsoldaten für europäische Kriege
Seit Beginn des 19. Jahrhundert hoben die Kolonialherren reguläre afrikanische Truppen aus. Im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 kamen sie erstmals auch in Europa zum Einsatz. Das „Bourbaki Panorama“ hier in Luzern erinnert daran.
Im Ersten Weltkrieg kamen schon Hunderttausende Afrikaner an Fronten auf verschiedenen Kontinenten zum Einsatz, im Zweiten Weltkrieg waren es Millionen.
Ki-Zerbo, der auch an dem umfangreichen Forschungsprojekt der UNESCO zur afrikanischen Geschichte beteiligt war, schrieb über die Folgen des Zweiten Weltkriegs für Afrika: „Den afrikanischen Völkern wurden außergewöhnliche Kriegsleistungen abverlangt. In den großen Küstenstädten herrschte Not. Die Ärmsten hüllten sich in alte Getreidesäcke. Doch im Allgemeinen ertrug man die Kriegslast ohne großen Widerstand: Man litt stumm. Zweifellos fühlten die Menschen, dass sie an einem großen, weltweiten Drama teilnahmen. Dennoch war die Kriegslast manchmal für die Soldaten leichter zu tragen. Sie befanden sich Auge in Auge mit den Nazitruppen und wussten, gegen wen sie kämpften. Die anonymen Massen der Afrikaner aber ließ man Tausende von Kilometern vom Kriegsschauplatz entfernt arbeiten und zahlen.“
Der britische Historiker David Killingray, einer der wenigen europäischen Wissenschaftler, die sich intensiv mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs für Afrika beschäftigt haben, kommt zu dem ähnlichen Ergebnis: „Vom Kap bis nach Kairo gab es kaum einen Lebensbereich, der nicht wirtschaftlich und darüber hinaus durch den Zweiten Weltkrieg in seinen Grundfesten erschüttert wurde.“
Der Hauptgrund dafür ist, dass die Welt – als der Zweite Weltkrieg begann – noch weitgehend kolonialisiert war und insbesondere Afrika – dem Titel dieser Ringvorlesung entsprechend – tatsächlich noch „Europas Afrika“ war, sprich: nahezu vollständig unter europäischer Kolonialherrschaft stand bzw. – wie Südafrika – ökonomisch und politisch von einer ehemaligen Kolonialmacht aus Europa kontrolliert wurde.
Kolonien zu Beginn des Zweiten Weltkriegs
Als größte Kolonialmacht verfügte Großbritannien – mit dem Commonwealth – über ein Imperium, das ein Viertel der Erde mit einem Viertel der Weltbevölkerung umfasste. Die französischen Kolonien waren zwanzigmal größer als das sogenannte „Mutterland“ und hatten 100 Millionen Einwohner. Die Fläche Niederländisch-Indiens (heute: Indonesien) entsprach der Westeuropas. Die USA beherrschten die Philippinen und von Inseln wie Hawaii und Amerikanisch Samoa weite Teile des Südpazifiks.
Japan kontrollierte mit Mikronesien den Norden des Pazifiks sowie die koreanische Halbinsel, Formosa und die Mandschurei. Und auch die faschistische Regierung Mussolinis herrschte in Nord- und Ostafrika über ein Kolonialgebiet, das um ein Vielfaches größer war als Italien.
Deutschland hatte seine Kolonien in Afrika und im Pazifik zwar nach dem Ersten Weltkrieg an die Siegermächte abtreten müssen. Doch ihre Rückgewinnung gehörte zu den erklärten Kriegszielen der Nazis.
Es brauchte jedoch ein halbes Jahrhundert und einen afrikanischen Autor, bis diese historischen Fakten erstmals im deutschsprachigen Raum erforscht und publiziert wurde. Der Umgang damit ist ein plastisches Beispiel dafür, wie historische Ereignisse, die für die Dritte Welt im Allgemeinen und für Afrika im Besonderen von großer Bedeutung waren, in der Nachkriegszeit aus der hiesigen Geschichtsschreibung bewusst herausgehalten wurden:
Konrad Adenauer als Kolonialpropagandist
Nach dem Ersten Weltkrieg hatte das Deutsche Reich bei den Friedensverhandlungen von Versailles im Jahre 1919 bekanntlich „seine“ Kolonien in Afrika, an der chinesischen Küste und im Pazifik an die Siegermächte abtreten müssen. Seitdem agitierten deutsche Kolonialwarenhändler, Industrielle und Bankenvertreter, die von der Ausplünderung der deutschen Kolonien profitiert hatten, gegen die „Schande von Versailles“. Nationalkonservative Politiker unterstützten diese Kolonial-Propaganda, wie das folgende Zitat von Konrad Adenauer belegt, der vor 1933 nicht nur Oberbürgermeister der Stadt Köln war, sondern auch stellvertretener Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft. In dieser Funktion erklärte Adenauer:
„Das Deutsche Reich muss unbedingt den Erwerb von Kolonien anstreben. Im Reiche selbst ist zu wenig Raum für die große Bevölkerung. Gerade die etwas wagemutigen, stark vorwärts strebenden Elemente, die sich im Lande selbst nicht betätigen konnten, aber in den Kolonien ein Feld für ihre Tätigkeit finden, gehen uns dauernd verloren. Wir müssen für unser Volk mehr Raum haben und darum Kolonien.“
Mit diesem Adenauer-Zitat wurde in einer „Kolonialen Sonderschau“ auf der Kölner Zeitungsmesse „Pressa“ im Jahr 1928 die Eroberung von angeblich „menschenleerem Raum“ in Afrika propagiert. Dazu waren zwei Karten abgebildet: eine kleine, gedrängte von Deutschland mit dem Titel: „60 Millionen ohne Raum“ und eine große, weite von Afrika mit der Überschrift: „Raum ohne Volk“. (In unserer Ausstellung hier im historischen Museum ist ein Foto davon zu sehen.)
Bislang ist Adenauers Tätigkeit als Funktionär der Deutschen Kolonialgesellschaft nicht einmal ansatzweise erforscht. Es scheint auch kein allzu großes Interesse daran zu geben, wurde Adenauer doch in einer Zeitungsumfrage vor nicht allzu langer Zeit noch zum „bedeutendsten deutschen Politiker aller Zeiten“ gewählt. Da stören Hinweise darauf, dass das NS-Regime an Kolonialpropaganda wie die seine nahtlos anknüpfen konnte.
Die Kolonialpläne der Nazis
Tatsächlich richtete die NSDAP schon 1933 ein Kolonialpolitisches Amt (KPA) ein, um die Verwaltung eines „germanischen Kolonialreichs“ in Afrika vorzubereiten. Dieses sollte von der Atlantikküste im Westen bis zum Indischen Ozean im Osten reichen und ein Drittel des Kontinents umfassen. Seine Eroberung gehörte zu den erklärten Kriegszielen der Nazis und sollte nach der Unterjochung Osteuropas erfolgen.
Ab 1940 rekrutierte das NS-Regime bereits Polizisten und SS-Truppen für Einsätze „in den Tropen“ und bildete ausgewählte Männer und Frauen für die Verwaltung von Plantagen und Minen aus. Denn das afrikanische Kolonialreich sollte Nazideutschland mit Nüssen, Ölen, Kaffee, Tee, Kakao, Tabak und Südfrüchten, Baumwolle, Sisal, Tropenhölzer, Erzen, Metallen, Gold und Diamanten versorgen. Selbst „Arbeitsbücher“ zur Registrierung der „Eingeborenen“, die unter deutscher Aufsicht Zwangsarbeit leisten sollten, wurden bereits gedruckt. Und NS-Juristen entwarfen ein „Kolonialblutschutzgesetz“, um jegliche „Rassenmischung“ in den Kolonien zu unterbinden. Schon im Juli 1941 konnte das Kolonialpolitische Amt vermelden: „Wenn der Führer, der Gestalter der deutschen Zukunft, den Einsatzbefehl auf kolonialem Gebiet geben wird, so wird er das Kolonialpolitische Amt gerüstet finden, diesen Befehl nach Kräften auszufüllen.“
Die ostafrikanische Insel Madagaskar wollte das NS-Regime auf besonders perfide Weise nutzen. Vier Millionen europäische Juden sollten dorthin deportiert werden. Dabei war klar, dass auf der Insel keineswegs so viele Menschen überleben konnten. Der Tod der meisten Deportierten war somit einkalkuliert. Die Überlegenheit der britische Flotte auf den Seewegen rund um Afrika verhinderte, dass Madagaskar zum Schauplatz des Holocaust wurde. Außerdem bot „der Krieg gegen die Sowjetunion… die Möglichkeit…,, andere Territorien für die Endlösung zur Verfügung zu stellen“, wie Franz Rademacher, Leiter des „Referats Judenfragen“ im Auswärtigen Amt, am 10. Februar 1942 in einem Brief an seinen Kollegen Ernst Bielfeld, Leiter der Kolonialabteilung, erläuterte. Danach hatte „der Führer entschieden, dass die Juden nicht nach Madagaskar, sondern nach Osten abgeschoben werden sollen.“
Der Sieg der Roten Armee in Stalingrad und der Sieg der alliierten Kolonialtruppen unter britischem Kommando in Nordafrika vereitelten die geplante Eroberung eines deutschen Kolonialreiches in Zentralafrika.
Der erste Wissenschaftler, der die Kolonialpläne der Nationalsozialisten erforschte, war bezeichnenderweise kein deutscher Historiker, sondern der bereits zitierte Politologe Kum´a Ndumbe aus Kamerun. Er studierte in den 1950er Jahren in Deutschland und begann schon damals mit Recherchen zu diesem Thema, obwohl ihm seine deutschen Professoren dringend davon abgerieten, weil sich dazu angeblich in den Archiven nichts finden ließe. Tatsächlich hatten sie selbst nie danach gesucht.
Kum’a Ndumbe liess sich nicht entmutigen, zumal er einen Auftrag der Zeitschrift „Das Parlament“ erhielt, die versprach, die Ergebnisse seiner Recherchen zu publizieren. Doch als die von ihm präsentierten Fakten vorlagen, schreckte die Zeitschrift vor einer Veröffentlichung zurück. Schließlich hätte diese den amtierenden Bundeskanzler Konrad Adenauer und andere ehemalige Kolonialpropagandisten desavouieren können, die ihre politischen Karrieren nach 1945 in der Bundesrepublik ungebrochen hatten fortführen können. So war es Jean-Paul Sartre, der die Forschungsergebnisse Kum’a Ndumbes über die Kolonialpläne der Nazis erstmals in seiner Zeitschrift „Les Temps Modernes“ publizierte – in französischer Sprache. In Deutsch konnten sie erst 1993 erscheinen in einem Buch mit dem Titel: „Was wollte Hitler in Afrika? NS-Planungen für eine faschistische Neugestaltung Afrikas“.
Das Beispiel zeigt, dass bedeutende aber unbequeme Kapitel der Kolonialgeschichte des Zweiten Weltkriegs fast ein halbes Jahrhundert hinweg aus dem deutschsprachigen historischen Diskurs gezielt herausgehalten wurden.
Französische Kolonien im Dienste Nazideutschlands
ähnlich unbeachtet blieb lange Zeit die Tatsache, dass auch das NS-Regime nach der Unterwerfung Frankreichs und dem Waffenstillstandsvertrag mit der Kollaborationsregierung von Vichy ab Juni 1940 Zugriff auf die französischen Kolonien in Afrika, Asien und Ozeanien erhielt – mit fatalen Folgen für deren Bewohner . Denn diese mussten in Zwangsarbeit Rohstoffe für die deutsche Rüstungsindustrie und Nahrungsmittel für die deutschen Truppen liefern.
So kam zum Beispiel der Kautschuk zur Bereifung deutscher Militärfahrzeuge bis zum Überfall auf die Sowjetunion im Jahre 1941 aus den französischen Kolonien in Indochina – transportiert mit der transsibirischen Eisenbahn.
Und aus den afrikanischen Kolonien lieferten die Vichy-Behörden den faschistischen Achsenmächten für ihre Rüstungsfabriken 900 000 Tonnen Phosphat und 350 000 Tonnen Eisen.
In Westafrika trieben französische Kolonialbeamte auf Geheiß des NS-Regimes sogar Geld zur Verpflegung der Zehntausenden afrikanischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern ein, die auf Seiten der Alliierten gekämpft hatten. Bauern in der Elfenbeinküste z.B. mussten einem „Komitee zur Versorgung der Kriegsgefangenen“ Kolanüsse, Mais, Mehl, Honig und Geld aushändigen.
Ab Februar 1941 kam noch die Versorgung der deutschen Panzerverbände in Nordafrika hinzu, für die im Maghreb weitere Nahrungsmittel, PKW und Lastwagen konfisziert wurden. Allein Algerien lieferte in einem Jahr 450 000 Doppelzentner Getreide, 220 000 Schafe und 4,8 Millionen Hektoliter Wein, während die algerische Bevölkerung an Unterernährung, Tuberkulose und Typhus litt.
Auch das Afrikakorps unter General Rommel spannte nach seiner Landung in Libyen Zwangsarbeiter ein. Aber während es Dutzende glorifizierende Bücher und Biographien über Rommel und seinen Afrikafeldzug gibt, ist mir nicht eine einzige historische Forschungsarbeit bekannt, die sich ernsthaft mit den Folgen der deutsch-italienischen Invasion für die Bevölkerungen in Libyen und Ägypten auseinander gesetzt hätte.
Weder aus Deutschland noch aus Italien kamen in der Nachkriegszeit nennenswerten Entschädigungen für die Ausbeutung und die Zerstörung Nordafrikas durch die deutsch-italienische Kriegsführung. Dagegen fand sich schon in den 1950er Jahren genügend Geld für ein gigantisches Kriegerdenkmal, das 200 Veteranen des Afrikakorps in Anwesenheit der Witwe des Nazi-Generals Rommel in der libyschen Wüste enthüllten, um an ihre „gefallenen Kameraden“ zu erinnern.
In El Alamein, Tobruk und auf anderen ehemaligen Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs in der Region finden sich heute zahlreiche Denkmäler für deutsche, italienische und alliierte Opfer. Aber nach meiner Kenntnis erinnert keines davon an die zu Tode geschundenen Zwangsrekrutierten und Zwangsarbeiter der faschistischen Achsenmächte oder an die Hunderttausenden Kolonialsoldaten, die unter britischem Kommando in Nordafrika kämpften und von denen Tausende in Nordafrika gefallen sind. Dazu gehörten Inder, Aborigines aus Australien, Maoris aus Neuseeland, Pazifikinsulaner, Soldaten aus der Karibik und Truppen aus allen bestehenden und ehemaligen britischen Kolonien in Afrika.
Rassismus in den südafrikanischen Streitkräften
Allein Südafrika z.B. stellte im Zweiten Weltkrieg etwa 335.000 Soldaten, darunter Schwarze, Weiße und so genannte „Coloureds“ – „Farbige“, wie Menschen mit indischen Vorfahren in der rassistischen Terminologie des Landes genannt werden.
60.000 Südafrikaner kämpften 1941 in der nordafrikanischen Wüste gegen das Afrikakorps der deutschen Wehrmacht. Am 21. November geriet die fünfte Brigade des „Cape Corps“ in eine verlustreiche Schlacht mit deutschen Panzerverbänden und Kampfflugzeugen. 3.000 Südafrikaner gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft, 224 kamen bei den Kämpfen um. Die Überlebenden bestatteten die Toten Seite an Seite in einem Massengrab. Aber als die Front weiter gezogen war, ließ das südafrikanische Oberkommando die Leichen exhumieren und erneut begraben – in drei Gräbern, nach Hautfarben getrennt.
Die Apartheid wurde zwar erst 1948 zur offiziellen Staatsdoktrin in Südafrika, wobei die von den Nazis entworfenen Kolonialgesetze rückblickend wie Vorlagen für die südafrikanischen Apartheidgesetze erscheinen. In den Streitkräften jedoch galt – wie das Beispiel zeigt – schon während des Zweiten Weltkriegs eine strikte Rassentrennung.
Die Verfolgung der nordafrikanischen Juden
Unbeachtet von der historischen Forschung nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, blieb lange Zeit auch die Tatsache, dass
nach dem Waffenstillstandsvertrag der französischen Kollaborationsregierung unter Marshall Philippe Pétain mit dem NS-Regime im Juni 1940 auch die etwa 500.000 Juden in den nordafrikanischen Kolonien Frankreichs mit dem Tode bedroht waren. 1350 algerische Juden hatten noch im Mai 1940 im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht für Frankreich ihr Leben gelassen. Aber mit der Übernahme der Kolonialverwaltung durch das Vichy-Regimes verloren Juden in Algerien erst ihre französische Staatsbürgerschaft, dann sämtliche öffentlichen Ämter und Funktionen. Nach dem „Judenstatut“ von Juni 1941 durften sie in zahlreichen Berufen (vom Journalismus bis zu Lehrtätigkeiten) nicht mehr arbeiten und ab Juni 1941 auch nicht mehr als Anwälte, Händler, Versicherungsvertreter und Unternehmer. Schließlich zwangen die französischen Kolonialbeamten Juden dazu, ihre Geschäfte und Wohnhäuser zu Spottpreisen zu verkaufen und verbannten jüdische Kinder aus Schulen und Universitäten.
Die deutschen und italienischen Faschisten sowie ihre französischen Verbündeten unterhielten in Nordafrika auch mehr als einhundert Arbeitslager, in die neben politischen Oppositionellen und Deportierten aus Europa auch Tausende maghrebinische Juden verschleppt wurden. Allein im Lager von Giado in der italienischen Kolonie Libyen kamen 562 Inhaftierte um.
Im Osten Marokkos mussten 7.000 Zwangsarbeiter Schienenstränge für eine geplante Trans-Sahara-Eisenbahn verlegen, die bis nach Niger reichen sollte. Die Lager in Algerien und Tunesien befanden sich meist in abgelegenen Wüstenregionen, in denen Zehntausende Gefangene schutzlos den brütend heißen Sommertagen und den eisigen Winternächten ausgesetzt waren. Der Partisan Claudio Moreno beschrieb das Lager von Hadjerat M’Guil deshalb als „französisches Buchenwald in Nordafrika“.
Es ist bemerkenswert, wie wenig Beachtung die Verfolgung der nordafrikanischen Juden bis heute findet. So erinnern zum Beispiel das eindrucksvolle Stelenfeld in Berlin und die Gedenkstätte daneben explizit nur an „die Vernichtung der europäischen Juden“. Hinweise auf die Verfolgung von Juden außerhalb Europas sucht man dort vergeblich. Nur auf einer Landkarte im Eingangsbereich, die bis zu den südlichen Anrainerländern des Mittelmeers reicht und auf der Lager verzeichnet sind, finden sich auch einige Punkte in Nordafrika. Aber Informationen dazu werden nicht geboten.
Dabei kamen durch Hunger, Misshandlung und Folter in den nordafrikanischen Arbeitslagern sowie durch Pogrome wie z.B. 1941 in Tunesien und durch Deportationen in die Todeslager der Nazis zwischen 4000 und 5000 Juden aus dem Maghreb ums Leben.
Arabische Helfershelfer für die faschistischen Achsenmächte
Wie der US-amerikanische Nahost-Historiker Robert Satloff, der zwei Jahre in der Region geforscht hat, schreibt, bestand das Personal der faschistischen Straflager in Nordafrika durchweg aus einheimischen Freiwilligen:
„Zahlreiche Berichte von Augenzeugen belegen, dass arabische Soldaten, Polizisten und Arbeiter zu allem bereit waren – manchmal in wesentlichem, manchmal in geringerem Maße – um nach dem Vorbild der Judenverfolgung in Europa auch gegen das nordafrikanische Judentum vorzugehen: das reichte von der Durchsetzung anti-jüdischer Sondergesetzte über die Zwangsverpflichtung jüdischer Arbeiter bis zur Verwaltung von Arbeitslagern. Von den Außenbezirken Casablancas bis in die Wüstengegenden südlich von Tripolis dienten Araber überall als Wächter und Aufseher in den Arbeitslagern. Und von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren sie bei den jüdischen (und anderen) Gefangenen als willige und loyale Diener der Nazis, Vichys und der (italienischen) Faschisten gefürchtet.“
Robert Satloff war eigentlich nach Nordafrika gereist, um dort nach arabischen Widerstandskämpfern und Antifaschisten zu suchen, die Juden gerettet haben. Er hatte die Hoffnung, über solche positiven Role-Models die Bereitschaft in arabischen Ländern zu fördern, sich kritisch mit Nationalsozialismus, Holocaust und der Beteiligung arabischer Kollaborateure daran auseinanderzusetzen. Satloff fand auch einige dieser arabischen “Helden” wie z.B. den Tunesier Khaled Abdelwahhab, der jüdische Frauen vor deutschen Besatzungsoffizieren versteckte, die sie in ihre Militärbordell verschleppen wollten. Aber anders als manche deutsche Islamwissenschaftler und Arabisten besitzt Satloff die wissenschaftliche Redlichkeit, auch Forschungsergebnisse zu publizieren, die seinem eigentlichen Ziel widersprechen. So schreibt er z.B., dass ihn Nachfahren von Arabern, die Juden im Zweiten Weltkrieg zu Hilfe kamen, darum baten, keinesfalls ihre Namen zu nennen, weil die Familien ansonsten von ihren heutigen Nachbarn deshalb geächtet, wenn nicht sogar tätlich angegriffen würden. So brisant kann die Aufarbeitung von Geschichte im nordafrikanischen Kontext sein.
Das SS-Kommando zur Vernichtung der nordafrikanischen Juden
Im Jahre 2006 publizierten die Historiker Martin Cüppers und Mathias Mallmann erstmals Dokumente, die belegen, dass das NS-Regime auch konkrete Pläne zur Vernichtung der Juden in Nordafrika und im Nahen Osten schmiedete. In ihrem Buch „Halbmond und Hakenkreuz“ weisen die beiden Mitarbeiter der Forschungsstelle Ludwigsburg zur Verfolgung von NS-Verbrechen nach, dass seit Mitte des Jahres 1942 ein Spezialkommando der SS in Athen auf Abruf für seinen Einsatz in Nordafrika bereit stand. Die Truppe – mit „sieben SS-Führern, 17 Unterführern und Mannschaffen“ – stand unter dem Befehl des SS-Obersturmbannführers Walter Rauff, der schon an Massenmorden in Polen beteiligt gewesen war und 1941 Lastwagen so hatte umbauen lassen, dass darin Menschen durch Abgase ermordet werden konnten. Diese „Vertrautheit mit dem Prozess der rationalisierten Vernichtung der Juden“, prädestinierte Rauff laut Cüppers und Mallmann „für den neuen Posten als Chef einer mobilen Todesschwadron für den Nahen Osten.“
Rauffs Truppe bestand nur aus maximal 100 Personen, aber die Nazis vertrauten darauf, ähnlich wie in Osteuropa genügend einheimische „Freiwillige“ für die Vernichtung der Juden zu finden: „Wie sich schon seit langem in zahlreichen Stimmungsberichten andeutete“, so Cüppers und Mallmann, „bot sich (…) im Nahen Osten eine unübersehbare und teilweise bereits wohlorganisierte Zahl von Arabern aus der dortigen Bevölkerung als willige Helfershelfer der Deutschen an. Das zentrale Betätigungsfeld von Rauffs Kommando, die Realisierung der Shoah in Palästina, wäre mit Hilfe jener Kollaborateure unmittelbar nach Erscheinen der Panzerarmee Afrika schnell in die Tat umgesetzt worden.“
Nachdem die Alliierten den Vormarsch der deutschen Truppen in Ägypten zurück schlagen konnten, landete das SS-Todeskommando im November 1942 in Tunesien, wo damals etwa 85.000 Juden lebten. Rauff ließ unmittelbar nach seiner Ankunft führende Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Haft nehmen und erteilte ihnen den Befehl, bis zum nächsten Tag 2.000 jüdische Zwangsarbeiter zum Ausbau der deutschen Frontlinien aufzubieten. Bei Nichtbefolgung drohte Rauff „mit der sofortigen Verhaftung von 10.000 Juden“.
Die deutschen Besatzer ließen in Tunesien 30 Arbeitslager bauen und zwangen Juden, auch während alliierter Bombardements weiter in Häfen und an Eisenbahnstrecken zu arbeiten. Darüber hinaus mussten Juden Abgaben in Millionenhöhe leisten, mit denen die arabische Bevölkerung nach alliierten Angriffen entschädigt wurde, weil das „internationale Judentum“ angeblich für den Krieg verantwortlich sei.
In der tunesischen Küstenstadt Sfax plante das SS-Kommando den Bau eines Konzentrationslagers, der nur aufgrund des alliierten Vormarsches aufgegeben werden musste.
Auch die Pläne der Nazis zur Vernichtung der Juden im Maghreb und die Sympathien arabischer Kollaborateure für eine Zitat „endgültige Lösung des Judenproblems in allen arabischen und mohammedanischen Ländern“ gehören zu den gravierenden Folgen des Zweiten Weltkriegs in Afrika. Es stellt sich somit die Frage, warum es mehr als sechs Jahrzehnte dauerte, bis diese Fakten endlich historisch erforscht und öffentlich präsentiert wurden. Eine Antwort darauf lautet, dass viele Regionalexperten, Islamwissenschaftler und Arabisten keinerlei Interesse zeigten und zeigen, sich mit Nazikollaborateuren in der Region auseinanderzusetzen. Im Gegenteil: Manche, wie etwa Mitarbeiter des Zentrums Moderner Orient in Berlin, scheuen nicht einmal vor systematischen Geschichtsklitterungen zurück, um Nazikollaborateure aus arabischen Ländern als antikoloniale Freiheitskämpfer erscheinen zu lassen und ihre offenen Sympathien für faschistische Gesellschaftsmodelle und den antisemitischen Rassenwahn der Nationalsozialisten zu verharmlosen.
Dies lässt sich anhand der Publikationen nachweisen, die im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojekts des Berliner ZMO über „Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus“ entstanden sind. Schon der Titel klingt verharmlosend so, als seien sich ein paar Araber und Nazis auf der Promenade der Zeitgeschichte begegnet und hätten sich zu gewunken.
Hochrangige Nazikollaborateure in Ägypten
Tatsächlich gab es insbesondere unter den Eliten in Nordafrika und im Nahen Osten breite und unverblümte Sympathien für den Faschismus und den Krieg der faschistischen Achsenmächte in Nordafrika.
Aber diese werden vom ZMO durchweg heruntergespielt. So veröffentlichte zum Beispiel Gerhard Höpp, von 1996 bis zu seinem Tod im Jahr 2003 führender Mitarbeiter des ZMO, eine Studie über „Deutsche Islampolitik zwischen 1938 und 1945“. Darin schrieb er, dass im Juli 1942 zwei ägyptische Militärpiloten im Auftrag von König Faruk die britisch-deutschen Linien überflogen, um dem Generalstab der deutschen Truppen in Nordafrika britische Militärpläne zu übergeben. Zur Vorbereitung der Spionageaktion hatte sich der ägyptische Konsul in Istanbul mit SS-Oberführer Erwin Ettel und einem Neffen des palästinensischen Großmuftis Husseini getroffen. Die Drei hatten vereinbart, dass die erfolgreiche Übergabe der britischen Militärgeheimnisse an die deutsche Wehrmacht durch das Verlesen bestimmter Suren aus dem Koran im Propagandasender der Nazis signalisiert werden sollte, was am 13. August 1942 auch geschah.
Den Islamwissenschaftler Höpp interessierte an dieser Geschichte lediglich der Einsatz von Koransuren im Rahmen der deutschen Militärspionage. Dass der ägyptische König und seine Militärs mit der SS kollaborierten und alliierte Militärgeheimnisse an die Nazis verrieten, war für ihn nicht der Rede wert. Sein Fazit lautete: „Diese Episode ist an sich gewiss bedeutungslos; sie verdeutlicht lediglich einen von mehreren, letzten Endes gescheiterten Versuchen, einheimische Verbündete für den zunächst militärischen Vorstoß Deutschlands nach Nordafrika und den Nahen Osten ausfindig zu machen und schließlich zu gewinnen.“
Tatsächlich fand Nazideutschland gerade in Ägypten zahllose „einheimische Verbündete“ nicht nur im Königshaus, sondern auf allen Ebenen der Gesellschaft. Schon Ende der 1930er Jahre war die Anhängerschaft der ägyptischen Muslimbrüder von 8.000 auf 200.000 angestiegen. Die Organisation rief nach deutschem Vorbild zum Boykott jüdischer Geschäfte auf und forderte: „Juden raus aus Ägypten und Palästina!“. Infolge dieser Agitation kam es 1939 zu Sprengstoffanschlägen auf eine Synagoge und jüdische Privathäuser in Kairo.
Die ägyptische Regierung hatte sich zwar vertraglich verpflichtet, im Falle eines Krieges auf der Seite Großbritanniens kämpfen. Aber die britischen Kommandeure scheuten sich, die ägyptische Armee mit ihren 40.000 Soldaten an der nordafrikanischen Front einzusetzen, weil sie deren Loyalität bezweifelten. Zu Recht, denn ägyptische Offiziere, darunter die späteren Präsidenten Gamal Abdel Nasser und Anwar as-Sadat, standen damals in ständigem Kontakt mit dem deutschen Kommando in Libyen und koordinierten ihre Aktivitäten mit dem Nazi-General Erwin Rommel. Sadat gestand dies später in seinem Buch „Revolte am Nil“ freimütig ein. Im September 1942 traf sich Sadat in Kairo mit zwei deutschen Geheimagenten, die ihm gefälschte Papiere, Funkgeräte und 20.000 britische Pfund für seinen Versuch überreichten, den deutschen Truppen in Ägypten den Weg zu ebnen.
Doch die Briten kamen dem zuvor und nahmen Sadat und die beiden Deutschen fest. Auch der Chef des ägyptischen Generalstabs, Aziz Akli el-Masri, gehörte zum Kreis der Verschwörer und landete in Haft.
Im Juli 1942 beriet der König mit dem von den Briten abgesetzten ehemaligen Regierungschef Ali Mahir bereits über die Zusammensetzung des Kabinetts, das mit den deutschen und italienischen Besatzern zusammenarbeiten sollte. Mit Schekh el-Azhar, dem Oberhaupt der Muslime in Ägypten, bereitete er einen fulminanten Empfang für die faschistischen Truppen vor, der „den Pomp, mit dem einstmals Napoleon willkommen geheißen wurde“, noch übertreffen sollte.
Fakten wie diese finden sich in den Publikationen des ZMO nicht, obwohl sie schon 1966 in einer Studie des polnischen Historikers Lukasz Hirszowicz nachzulesen waren. Hirszowicz hatte als erster entsprechende Dokumente des Auswärtigen Amts und anderer Regierungsstellen des NS-Regimes ausgewertet.
Wenn es auf Tagungen des Berliner ZMO um Ägypten ging, dann referierte dort zum Beispiel Wolfgang Schwanitz, der sich mit Fragen wie der Geschichte der „Deutschen Handelskammer in Ägypten“ beschäftigte. Er die guten deutsch-ägyptischen Beziehungen in den 1930 Jahren, ohne auf die faschistische Machtübernahme in Deutschland im Jahre 1933 auch nur einzugehen. Stattdessen hielt er Episoden wir die Folgende aus dem Jahre 1938 für erwähnenswert:
„Der ‚Führer und Reichskanzler’ (Adolf Hitler) (schenkte) dem jungen König Faruk zu dessen Vermählung mit der schönen Farida großmütig ein ‚Mercedes-Benz-Sport-Cabriolet’.“
Die Publikationen des Berliner ZMO belegen, dass manche Islamwissenschaftler und Arabisten unbequeme Kapitel der Geschichte bewusst ausblenden oder gar umschreiben, weil die historischen Fakten ihre aktuellen Positionierungen im Nahost-Konflikt stören könnten.
Beginn des Zweiten Weltkriegs 1935 in Äthiopien?
Andere Historiker messen, wie Professor Kum’a Ndumbe zurecht kritisiert, historischen Ereignissen, die in Afrika stattfanden, offenkundig nicht dieselbe Bedeutung zu wie vergleichbaren Szenarien in Europa.
Dies zeigt der Umgang mit der italienischen Invasion in Äthiopien bzw. Abessinien, mit der 1935 auch noch das letzte Land, das sich bis dahin erfolgreich gegen jegliche Kolonialisierungsversuche zu widersetzen vermocht hatte, europäischer Herrschaft unterworfen werden sollte.
Ich werde auf den italienischen Vernichtungskrieg in Ostafrika nicht weiter eingehen, weil Professor Mattioli, der dazu geforscht hat, dies in seinem Vortrag in zwei Wochen sicher detaillierter und qualifizierter tun wird als ich es könnte. Aber ich will hier doch zumindest die Frage aufwerfen, warum dieser Krieg in der Historiographie des Zweiten Weltkriegs ansonsten kaum Erwähnung findet, obwohl darin bis zur italienischen Kapitulation im Jahre 1941 Hunderttausende Soldaten aus 17 Ländern und drei Kontinenten zum Einsatz kamen. Würde ein ähnliches Kriegsszenario, hätte es denn auf dem europäischen Kontinent stattgefunden, nicht selbstverständlich als Beginn des Zweiten Weltkriegs gelten? Bleibt der äthiopische Kriegsschauplatz nur deshalb unbeachtet, weil er in Afrika liegt und dort mehrheitlich schwarze Soldaten kämpften?
Im Rahmen der Recherchen für die von uns publizierten Unterrichtsmaterialien über die Rolle der Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg habe ich sämtliche Schulbücher für Geschichte durchgesehen, die in Nordrhein-Westfalen im Unterricht eingesetzt werden. Dabei habe ich nur ein einziges gefunden, in dem der Krieg in Äthiopien Erwähnung findet – wenn auch nur in wenigen Zeilen. In diesem „Kursbuch Geschichte“ aus dem Jahr 2007 steht das Fazit: „Die Äthiopier hatten dem mit modernen Waffen, Giftgas und äußerster Brutalität geführten Angriff (der italienischen Truppen) nichts entgegenzusetzen.“ Tatsächlich verfügte Äthiopien nicht nur über eine Armee mit mehr als 100.000 Soldaten, die sich den Invasoren ein halbes Jahr lang entgegen stellte, bis die Hauptstadt Addis Abeba unterworfen war, sondern danach kämpften auch Hunderttausende Partisanen, die sich „Patriots“ nannten, vier Jahre lang weiter in Guerilla-Manier gegen die Besatzer und leisteten damit einen wesentlichen Beitrag zur italienischen Niederlage im Jahre 1941.
Aber afrikanische Kriegsteilnehmer zählen in der hiesigen Geschichtsschreibung scheinbar im wahrsten Sinne des Wortes „nichts“. Dies zeigt auch die Ausklammerung der Millionen afrikanischen Kolonialsoldaten, die unter französischem und britischem Kommando gekämpft haben, aus der europäischen Geschichtsschreibung.
Afrikanische Kolonialsoldaten unter britischem Kommando
Allein die britische Armee rekrutierte im Zweiten Weltkrieg in Afrika rund eine Million Männer – oftmals mit Gewalt. Diese afrikanischen Soldaten fochten 1940/41 gegen italienische Kolonialtruppen in Britisch-Somaliland und Äthiopien, 1940 bis 1943 gegen die deutsch-italienischen Verbände im libysch-ägyptischen Grenzgebiet, 1942 gegen das Vichy-Regime in Madagaskar und 1944 gegen japanische Truppen in den Dschungeln der britischen Kolonie Burma. Dass der japanische Angriff auf die britische Kronkolonie Indien zurück geschlagen werden konnte, ist nicht zuletzt den etwa 100.000 afrikanischen Soldaten zu verdanken, die dort unter britischem Kommando in der ersten Frontlinie standen.
Gedankt hat es ihnen niemand: Der Sold der afrikanischen Soldaten war deutlich niedriger als der britischer Militärs und ihre Verpflegung weitaus schlechter. Die Befehlshaber der Kolonialtruppen waren durchweg weiße Offiziere. Das britische Oberkommando bereitete sie mit einer Broschüre auf ihre Kommandofunktionen vor, in der es hieß, die afrikanischen Soldaten hätten in vielerlei Hinsicht „den Geisteszustand von Kindern“.
Auf rassistische Diskriminierungen dieser Art reagierten die Kolonialsoldaten mit Protesten und Meutereien. So weigerten sich zum Beispiel viele, an Bord der Transportschiffe nach Indien zu gehen, weil ihnen Zuschläge für Kriegseinsätze in Asien, wie sie britischen Soldaten zugestanden wurden, verwehrt blieben.
Britische Kriegsgerichte verhängten für die Anführer der Revolten Prügelstrafen und auch Todesurteile. Trotzdem desertierten allein in Ostafrika 1944/1945 mehr als 25.000 Männer.
Auch die britische Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg sparte Jahrzehnte lang die Auswirkungen des Krieges auf die Kolonisierten aus. John Hamilton, im Krieg Zugführer und Fernmelde-Offizier in der 81. westafrikanischen Division, kritisiert, dass selbst die ausführlichste englischsprachige Geschichte über die Schlacht um Burma die Zehntausenden Kolonialsoldaten aus Westafrika, die dort auf Seiten der Alliierten kämpften, in gerade mal vier Zeilen abhandelt.
Im Jahr 1998 wurde der “Memorial Gates Trust” gegründet, eine Stiftung, die Geld sammelte, um endlich auch die Millionen sogenannten “Freiwilligen” aus Indien, Afrika und der Karibik, die unter britischem Kommando im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, mit einem Denkmal zu ehren. Am 6. November 2002 weihte die britische Königin, Queen Elisabeth, den kleinen Gedenkpavillon ein – 57 Jahre nach dem Kriegsende.
Staatlich verordnete Geschichtsklitterungen in Frankreich
In Frankreich sollte die Ausklammerung der Kolonialgeschichte des Zweiten Weltkriegs auf Initiative von Präsident Sarkozy sogar zur Staatdoktrin werden. Im Februar 2005 entwarf seine Regierung ein Gesetz, wonach Geschichtsbücher in Frankreich – Zitat – “die positive Rolle der französischen Präsenz in seinen überseeischen Kolonien, insbesondere in Nordafrika, anerkennen” sollten.
Diese staatlich verordnete Geschichtsklitterung sollte sich vor allem auf die französische Kolonialvergangenheit in Algerien beziehen. Sie löste eine erregte öffentliche Debatte aus. Schließlich hatte Frankreich in Algerien nicht nur Zehntausende Soldaten sowohl für den Ersten, als auch für den Zweiten Weltkrieg rekrutiert und auch noch für seinen Kolonialkrieg bis 1954 in Indochina. Und französische Truppen hatten in dem Befreiungskrieg, den Algerier und Algerierinnen von 1954 bis 1962 für die Unabhängigkeit ihres Landes führen mussten, ein Sechstel der algerischen Bevölkerung umgebracht, fast eineinhalb Millionen Menschen. Die nordafrikanischen Einwanderer in Frankreich erinnerten Sarkozy 2005 an diese keineswegs positiven Aspekte der Geschichte und die Jugendrevolte in den Migrantenvierteln der Banlieus brachte den Plan der Pariser Regierung zur Beschönigung der französischen Kolonialgeschichte vorläufig zu Fall. Bei ihren Protesten verwiesen Jugendliche, deren Familien aus dem Maghreb stammten, explizit darauf, dass ihre Väter und Großväter für Frankreich in den Krieg gezogen waren, aber niemals angemessene Renten und Entschädigungen dafür bekommen hatten, und dass auch Kinder und Enkel von Veteranen, die Frankreich vom Naziterror befreit hatten, heute ein Visum beantragen müssten, um das Land zu betreten, für das ihre Vorfahren ihr Leben eingesetzt hätten.
Afrikanische Kolonialsoldaten unter französischem Kommando
Auch unter französischem Kommando kamen im Zweiten Weltkrieg etwa eine Million afrikanischer Soldaten zum Einsatz, viele von ihnen sogar auf wechselnden Seiten der Front. Nach der Kriegserklärung an Nazideutschland im September 1939 rekrutierte die Französische Republik in ihren afrikanischen Kolonien etwa 500.000 afrikanische Soldaten.
Viele von ihnen standen im Mai 1940 in Nordfrankreich an der Front, um den Einfall der deutschen Wehrmacht abzuwehren. Die genauen Zahlen sind nicht bekannt, aber wie groß der Anteil der afrikanischen Soldaten gewesen sein muss, zeigen Schätzungen wie die von Professor Raffael Scheck, der in dieser Ringvorlesung über die Massaker der deutschen Wehrmacht an afrikanischen Kriegsgefangenen berichten wird. Danach waren bei der französischen Kapitulation im Juni 1940 bereits 60.000 Afrikaner in deutsche Gefangenschaft geraten.
Nach der französischen Niederlage und dem Waffenstillstand zwischen der Kollaborationsregierung von Vichy und dem NS-Regime mussten Kolonialsoldaten aus West- und Nordafrika, die bis dahin für Einsätze gegen Nazideutschland rekrutiert worden waren, auf der Seite der faschistischen Achsenmächte weiter Krieg führen, so zum Beispiel in Dakar, in der Levante (Syrien und Libanon) und 1942 auch in Nordafrika. Dabei standen ihnen auf all diesen Kriegsschauplätzen auch Soldaten aus Zentral- und Ostafrika unter alliiertem Kommando gegenüber.
General Charles de Gaulle, der im Juni 1940 von London aus zum Widerstand gegen das Vichy-Regime und Nazideutschland aufrief, konnte seine Streitmacht des „Freien Frankreich“ nur in den Kolonien aufbauen. Denn von den 35.000 französischen Soldaten, die wie er nach Grossbritannien geflohen waren, waren 1940 nur 2.500 bereit, an seiner Seite zu kämpfen. Der Rest folgte dem Aufruf des Nazikollaborateurs Petains zur Rückkehr nach Vichy-Frankreich.
De Gaulles erster Stützpunkt war das Fort Lamy in Äquatorialafrika (im heutigen Tschad) und er schrieb später in seinen Memoiren: „In den ausgedehnten Weiten Afrikas konnte Frankreich tatsächlich eine neue Armee zur Verteidigung seiner Souveränität aufstellen […] und damit die Kräfteverhältnisse an der Front umkehren. Afrika, in Reichweite der Halbinseln Italien, Balkan und Spanien gelegen, bot eine ausgezeichnete Ausgangsbasis für die Rückeroberung Europas.“
Als die Vichyregierung nach der Landung der Alliierten in Nordafrika 1943 die Kontrolle über die Kolonien verlor, rekrutierte de Gaulle in Nord- und Westafrika weitere Hunderttausende Soldaten für die alliierten Landetruppen in Italien und in der Provence.
Die Kolonialsoldaten wurden wie von den britischen, so auch von den französischen Militärs nicht selten mit Zwang rekrutiert und erhielten oftmals kaum eine nennenswerte militärische Ausbildung, bevor sie nach Europa verschifft und an die Front geschickt wurden.
Baba Sy, der 1979 Verteidigungsminister Obervoltas wurde (heute: Burkina Faso) und im Zweiten Weltkrieg zu den westafrikanischen Truppen des Freien Frankreichs gehörte, den Tirailleurs Sénégalais berichtete:
„Sie gaben uns damals keinerlei politische Erklärungen…Die Franzosen erzählten uns lediglich, dass die Deutschen Afrikaner für Affen hielten und wir mit unserem Einsatz in diesem Krieg beweisen könnten, dass wir Menschen wären. Das war’s…“
Wie viele andere Tirailleurs wurde auch Baba Sy 1943 in Dakar eingeschifft, um nach Europa in den Krieg zu ziehen. Er nahm an der Landung in Italien teil, wurde auf der Insel Elba verletzt und war schließlich an der Befreiung Straßburgs beteiligt. „Dort standen wir bei Kriegsende immer noch“, erzählte er. „Denn Schwarze wurden nur bis in die Mitte von Frankreich eingesetzt, um die Deutschen zurückzuschlagen.“
Bei der Befreiung von Paris wollte General de Gaulle die afrikanischen Soldaten nicht mehr in der ersten Reihe marschieren sehen. Er wollte die französische Resistance, die ihm aufgrund ihrer linkssozialistischen Haltungen politisch suspekt war, in seine Streitkräfte eingliedern und junge Franzosen als Befreier auf den Champs Elysees gefeiert sehen. So wurden noch während der Krieg in seine letzte Phase trat Bilder von überwiegend weißen französischen Befreiern gezielt inszeniert, die danach die Geschichtsschreibung bestimmen sollten.
Obwohl de Gaulles Truppen des Freien Frankreich mehrheitlich aus Afrikanern bestanden hatten, sollte es tatsächlich sechs Jahrzehnte dauern, bis die französische Regierung erstmals offiziell der afrikanischen Kolonialsoldaten gedachte und afrikanische Veteranen zu Feierlichkeiten wie dem 60. Jahrestag der alliierten Landung in der Provence einlud.
Auf eine Gleichbehandlung zu ihren französischen „Kameraden“ bei der Zahlung von Kriegs- und Invalidenrenten warten die Anciens Combattants aus Afrika bis heute vergeblich.
Französische Kolonialverbrechen ausgeblendet
Es dauerte in Frankreich auch mehr als ein halbes Jahrhundert, bis die französische Regierung Kriegsverbrechen in Afrika nicht mehr schlichtweg leugnetet, so wie z.B. das Massaker im senegalesischen Thiaroye.
Im Dezember 1944 waren knapp 1300 Tirailleurs Sénégalais („Senegalschützen“) von ihren Kriegsdiensten in Europa nach Westafrika zurückgekehrt. Viele von ihnen hatten Jahre der Haft und Zwangsarbeit in deutschen Lagern hinter sich. In Thiaroye, einem provisorischen Übergangscamp vor den Toren der senegalesischen Hafenstadt Dakar, warteten sie auf die Auszahlung ihres restlichen Solds und die versprochenen Demobilisierungsprämien in Höhe von 500 Franc. Außerdem forderten sie dieselbe Haftentschädigung von 5000 Franc pro Person, die Franzosen für Kriegsgefangenschaft erhielten.
Die Kolonialoffiziere vor Ort, viele schon unter Vichy im Amt, verweigerten die Zahlungen und wollten zudem beim Umtausch französischer Francs in die Kolonialwährung CFA nur die Hälfte des offiziellen Wechselkurses gewähren. Deshalb kam es zu einer Revolte. Die Afrikaner nahmen einen französischen Offizier als Geisel und ließen ihn erst frei, nachdem er ihnen zugesichert hatte, all ihre Forderungen zu erfüllen.
Doch nach seiner Freilassung umstellten in der Nacht zum 1. Dezember 1944 Panzer das Lager und eröffneten um fünf Uhr morgens das Feuer. Als die Tirailleurs schlaftrunken aus ihren Baracken stürzten, ließen die französischen Kommandeure sie gnadenlos niedermetzeln.
Die Zahl der Opfer wird je nach Quelle mit 35 bis 300 angegeben. Sie ist schwer zu verifizieren, da die französischen Behörden bis heute nicht alle Akten freigegeben haben.
Französische Militärgerichte verurteilten 34 sogenannte Rädelsführer der Revolte im März 1945 zu Haftstrafen von bis zu 10 Jahren. Fünf Männer starben im Gefängnis, die restlichen wurden im Juni 1947 aufgrund des wachsenden politischen Drucks amnestiert.
Die Nachricht von dem Massaker in Thiaroye verbreitete sich rasch in ganz Westafrika. Es wurde zum Symbol für die Willkür der Kolonialmacht und gab den Unabhängigkeitsbewegungen der Region Auftrieb. Ein Spielfilm des senegalesischen Regisseurs, Schriftstellers und Kriegsteilnehmers Ousmane Sembène erinnert schon 1989 daran.
In französischen Geschichtsbüchern hingegen wurde dieses Massaker auch viele Jahre später noch ebenso verschwiegen wie die Ereignisse am 8. Mai 1945 in Algerien, dem Tag des Kriegsendes in Europa.
Der 8. Mai 1945 in Algerien – ein Tag der Trauer
Bis heute ist der 8. Mai in Frankreich ein nationaler Feiertag, in der ehemals französischen Kolonie Algerien hingegen ein Tag der Trauer. Warum, erklärt die algerische Autorin Alice Cherki so:
„In Algerien hatten sich viele Männer freiwillig als Soldaten gemeldet und geglaubt, dass das Ende dieses Krieges auch ihnen die Freiheit bringen würde, wie es die Franzosen versprochen hatten. Am 8. Mai 1945, dem Kriegsende in Europa, gingen die Menschen in Constantine, Guelma und Sétif deshalb auf die Straße, um de Gaulle an sein Versprechen zu erinnern. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit französischen Siedlern, die blindlings in die Menge schossen. Die französische Armee kam ihnen zu Hilfe und setzte schließlich sogar Flugzeuge ein. Das Ergebnis war ein furchtbares Massaker an algerischen Zivilisten. Ganze Familien wurden dabei niedergemetzelt.“
Selbst französischen Regierungsquellen müssen inzwischen eingestehen, dass mindestens 1.500 Algerier an diesem Tag ums Leben kamen. Algerische Quellen nennen bis zu 45.000 Opfer.
Ich habe im Revolutionsmuseum in Algier Fotos von diesem Tag gesehen, es waren Fotos von Leichenbergen, die von französischen Soldaten an die Stadtränder gekarrt und dort verbrannt wurden.
Für viele in Algerien markierte der 8. Mai 1945 deshalb den Beginn des algerischen Befreiungskrieges, da das Freie Frankreich de Gaulles an diesem Tag mit brutaler Gewalt demonstrierte, dass es nicht gewillt war, dem Land freiwillig und friedlich die Unabhängigkeit zu gewähren. Dafür mussten bis 1962 noch mehr als eine Million Algerierinnen und Algeriern ihr Leben lassen.
Es gibt inzwischen einige detaillierte historische Untersuchungen und Dokumentarfilme von algerischen und französischen Autoren über das Gemetzel am 8. Mai 1945 in Algerien. Aber die entsprechenden Regierungsarchive sind immer noch nicht alle öffentlich zugänglich.
So wird die Geschichtsschreibung über die Rolle der Dritten Welt im Allgemeinen und Afrikas im Besonderen im Zweiten Weltkrieg bis heute auch von Regierungsstellen eingeengt, manipuliert und behindert.
Kurzes Fazit
Aufgrund von Zwangsrekrutierungen und Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs brachen weite Teile der traditionell auf Selbstversorgung ausgerichteten Landwirtschaft Afrikas zusammen. Hinzu kam die Verwüstung weiter Teile des Kontinents durch den Krieg. Von den Folgen dieser kriegsbedingten Verwerfungen hat sich Afrika bis heute nicht erholt. Daran zu erinnern hatten sämtliche kriegführenden Mächte deshalb kein Interesse. Denn wäre die bedeutende Rolle, die Afrika für die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus spielte, in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen worden, hätten möglicherweise politische Konsequenzen daraus gezogen werden müssen. So hätten vielleicht angemessene Pensionen und Entschädigungen gezahlt oder Wiederaufbauhilfen und Wiedergutmachungen geleistet werden müssen.
Konsequenzen also, die Kosten verursacht hätten und die deshalb jede Regierung in den am Krieg beteiligten Mächten zu vermeiden suchte.
Wer die Geschichte ernst und wahrnimmt, müsste für einen anderen Umgang mit den afrikanischen Ländern und ihren Bewohnern eintreten, und auch MigrantInnen, die von dort kommen, mit größerem Respekt begegnen, als die heute in Europa der Fall ist. Wenn es aktuell eine Schuld zu begleichen gibt, dann ist es jedenfalls die Europas bei Afrika und nicht umgekehrt. Tatsächlich jedoch verweigert dieses Europa, das Afrika vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg systematisch ausgeplündert hat, selbst den Nachfahren der afrikanischen Soldaten, die für seine Befreiung gekämpft haben, heute die Einreise.
Die beschämenden Debatten dieser Tage über den Umgang mit den Flüchtlingen, die aus den von Europa Jahrzehnte lang hofierten Diktaturen Nordafrikas zu entkommen versuchen, bestätigen dies einmal mehr. Es ist an der Zeit, dass sich an dieser rassistischen und geschichtsvergessenen Haltung endlich etwas ändert.