Interview zum Hiphop-Tanztheater
Yan Gilg ist Sozialarbeiter, Hiphop-Musiker und Mitbegründer der Compagnie Mémoires Vives in Straßburg. Er hat das Hiphop-Tanztheater-Stück „Die vergessenen Befreier“ („A Nos Morts“) inszeniert, die Musik komponiert und die aus historischen Filmausschnitten und Fotos bestehende Videoinstallation dazu zusammengestellt. Interview mit Yan Gilg
Karl Rössel: Die Geschichte der Kolonialsoldaten, der „Tirailleurs“, ist in Frankreich wie in Deutschland nahezu vergessen. Wie seid Ihr auf die Idee gekommen, das Thema als Hiphop-Tanztheater auf die Bühne zu bringen.
Yan Gilg: Man kann sagen, dass mich die Geschichte eingeholt hat. Ich war 35 Jahre alt, als ich in Straßburg dem im Maghreb bekannten marokkanischen Sänger Reda Bouchenak begegnete. Er stammt wie der Hauptdarsteller des Films „Indigenes“, Jamel Debbouze, aus Oujda und erzählte mir damals von den Dreharbeiten des algerischen Regisseurs Rachid Bouchareb zu diesem Film. Wir haben daraufhin einen Song über die „Tirailleurs„ geschrieben mit dem Titel „Unbekannte Soldaten“. Er findet sich auch auf unserer CD, aber bei der Arbeit daran wurde mir klar, dass ich von diesem Thema eigentlich überhaupt keine Ahnung hatte. Ich habe dann im Internet unter dem Stichwort „Tirailleurs“ gesucht und eine Nacht damit verbracht, alles, was ich fand, auszudrucken. Als mir der enorme Beitrag bewusst wurde, den Kolonialsoldaten für die Befreiung Frankreichs geleistet haben, empfand ich es als unglaublich, dass ich bis dahin nichts davon gehört hatte.
Hast Du bei den Recherchen mit Historikern zusammen gearbeitet?
Da ich eher Hiphop-Künstler bin als Theatermensch, hatte ich zunächst nur vor, ein Album zum Thema zu produzieren. Aber dann stieß ich auf Informationen über afrikanische Soldaten im Ersten Weltkrieg und ihre Beteiligung an der Schlacht um den Chemin des Dames 1917, auf Résistance-Kämpfer wie Hady Bah aus Guinea, auf de Gaulles afrikanische Armee im Zweiten Weltkrieg und deren Landung in der Provence. So entstand die Idee zu einem Theaterstück. Dafür brauchte ich allerdings einen breiteren historischen Background. Also habe ich mir zunächst Dokumentarfilme besorgt wie „C’est nous les Africains… Eux aussi ont liberé l’Alsace“ von Jean Marie Fawer, „Baroud d’honneur„ von Grégoire Georges-Picot, „La Couleur du Sacrifice“ von Mourad Boucif und „Les Oubliers de l’histoire„ von Daniel Kupferstein„. Darüber hinaus habe ich in den Archiven des Verteidigungsministeriums nach historischen Fotos gesucht, weil ich mir sicher war, dass diese für sich selbst sprechen würden, wenn man sie nur öffentlich zeigte. Schließlich habe ich Historiker um Hilfe gebeten wie Pascal Blanchard, Eric Deroo, Nicolas Bancel und Recham Belkacem. So entstand eine künstlerische Arbeit, die wesentlich auf historischen Arbeiten und Dokumenten beruht.
Hast Du die Form einer Hiphop-Performance eher aufgrund Deines persönlichen künstlerischen Backgrounds gewählt oder weil sie den musikalischen Vorlieben der dritten Generation von MigrantInnen entspricht, den Nachfahren der „Tirailleurs“?
Aus beiden Gründen und es gibt noch einen dritten. Wir sind Hiphop-Künstler und Hiphop ist unsere Kultur. Aber Hiphop ist eine Musik, die im Exil geboren wurde, an die Deportation von Afrikanern nach Amerika erinnert und an deren Migration nach Europa. Es ist eine Kultur, die sich aus dem Leid von Bevölkerungsgruppen entwickelt hat, die aus der Dritten Welt stammen. Manchen erscheint Hiphop deshalb als eine minderwertige Kultur, eine Kultur von Fremden, von „Negern„. Wurden Indigene in der Kolonialgeschichte oft mit wilden Tieren verglichen, so wird auch die Kultur ihrer Nachfahren, der Hiphop, oft verächtlich als Musik von „Wilden“ dargestellt. Dem wollen wir etwas entgegensetzen, indem wir die Geschichte der MigrantInnen und ihrer Vorfahren mit Hiphop erzählen.
MigrantInnen stellen auch die meisten SängerInnen und TänzerInnen in dem Stück.
Ja, ich wollte die Kolonialarmee symbolisch auf die Bühne bringen und habe deshalb Darsteller aus Ländern des subsaharischen Afrikas, des arabisch-berberischen Maghrebs und aus Asien gesucht. Daneben sollten unbedingt auch Frauen auftreten. Denn die Rolle, die Frauen etwa in der Résistance oder in den Streitkräften und Waffenfabriken gespielt haben, ist in der von großen weißen Männern geprägten Geschichtsschreibung ebenso vergessen. Aber ich habe nicht ausschließlich mit professionellen SchauspielerInnen gearbeitet. Schließlich bin ich auch Sozialarbeiter und zu meiner Arbeit gehört, talentierten Menschen, die bisher nicht die Möglichkeit hatten, sich künstlerisch auszudrücken, Gelegenheit dazu zu bieten. So sind einige über das Abenteuer „A Nos Morts“ zu Profis geworden.
War den DarstellerInnen das Thema aufgrund von Erfahrungen in ihren eigenen Familien vertraut?
Die Dimension des Themas ist auch manchen von ihnen erst durch ihre Mitarbeit an dem Theaterstück bewusst geworden. Einige haben erst dadurch herausgefunden, dass sie in Straßburg oder Mulhouse leben, weil ihre Großväter als Kolonialsoldaten in diese Region kamen. Ihre Eltern oder Großeltern hatten darüber aus Scham nie geredet. Selbst ich als Weißer mit elsässischen Wurzeln habe erst durch die Arbeit an dem Stück verstanden, dass die afrikanischen, arabischen und asiatischen Soldaten auch meine Vorfahren sind – nicht meine biologischen, aber doch meine historischen.
…als Befreier…
Genau! Hat die historische Bewusstwerdung der DarstellerInnen ihre Beziehungen zu dem Stück verändert? Sie hat die Art und Weise geändert, wie wir mit dem Stück und den anschließenden Diskussionen mit dem Publikum umgehen. Nicht jeder von uns hat den gleichen historischen Kenntnisstand und jeder musste seine eigene Herangehensweise finden, um tiefer in die Materie einzusteigen. Farba Mbaye z.B. musste sich mit dem französischen Massaker an den Kolonialsoldaten 1944 im senegalesischen Thiaroye auseinander setzen, weil er die Geschichte auf der Bühne erzählt. Auch die anderen mussten sich mit historischen Ereignissen oder Personen beschäftigen, um sie vermitteln zu können.
Wann war die Premiere des Stücks?
Wir haben im März 2005 angefangen zu arbeiten und bis Februar 2006 recherchiert, geschrieben, Dokumente und Archivbilder zusammengestellt. Die Premiere war im April 2006. Du hast auch die Musik komponiert.
Hast Du eine musikalische Ausbildung?
Ich war schon immer von Musik begeistert, habe auch ein paar Instrumente spielen gelernt, beherrsche sie aber nicht gut. Ich bin eher Programmierer und kreiere Musik am Computer. So ist auch die Musik für das Stück mit virtuellen Instrumenten entstanden.
Wie waren die Reaktionen auf das Stück in Frankreich?
Bis heute hatten wir etwa 50 Vorführungen in Frankreich und etwa 15.000 Menschen haben sie besucht. Die Reaktionen waren zum Teil unglaublich emotional und zeigten, wie wichtig es ist, über dieses Thema endlich zu reden. Denn die Überlebenden warten bis heute vergeblich auf Anerkennung. Nach Aufführungen drückten deshalb manche spontan ihre Dankbarkeit aus und viele weinten. Das waren oft Menschen mit Migrationshintergrund, darunter Veteranen und ihre Nachfahren. Sie sagten: „Danke! Endlich zeigt mal jemand, was mein Vater oder Großvater durchgemacht haben.“ Andere entschuldigten sich für ihre Vorurteile gegenüber der Hiphop-Kultur, der sie keine intelligente Auseinandersetzung mit der Geschichte zugetraut und die sie bis dahin nur mit dicken Autos, nackten Frauen, Pools und Champagner assoziiert hatten. Auch Weiße im Publikum stellten sich die Frage, warum sie von alledem bis dahin nichts erfahren hatten und versprachen, das Thema weiter zu verfolgen.
Gab es auch Reaktionen von offiziellen Stellen?
Politiker registrieren den Erfolg eines Theaterstücks und folgen den Reaktionen des Publikums. Deshalb haben wir selbst von Konservativen Glückwünsche erhalten. Wir haben das Album samt Begleitheft an alle Mitglieder der Regierung Sarkozy verschickt und überwiegend positive Antworten darauf erhalten. Das ist natürlich schizophren, wenn man bedenkt, dass Sarkozy noch im Februar 2005 ein Gesetz vorgelegt hat, wonach die Wohltaten der französischen Kolonisation in den Schulen stärker herausgestrichen werden sollten. Und bei seiner Amtseinführung hatte er erklärt, dass er das Beharren auf historischen Erinnerungen ebenso ablehne wie jede Reue für die französische Geschichte. Als sei es nicht längst überfällig, sich endlich bei denen zu entschuldigen, die Frankreich beraubt und ausgebeutet hat und zumindest symbolisch einzugestehen: „Unsere Republik hat Fehler begangen“. Die Reaktionen auf unser Stück waren damit ebenso paradox wie das Versprechen Jacques Chiracs – damals noch Präsident – nach der Premiere des Films „Indigènes“, endlich die Pensionen der Kolonialsoldaten anzuheben. Tatsächlich war seine Regierung längst vom obersten französischen Verwaltungsgericht wie vom Europäischen Gerichtshof dazu verurteilt worden und hatte ein ums andere Mal Berufung gegen die Urteile zugunsten afrikanischer Kolonialsoldaten eingelegt. Das ist alles reichlich zynisch.
Sarkozy hat bei seinem Besuch in Dakar gesagt, Afrika habe keine Geschichte…
Das war tatsächlich noch schlimmer. Er hielt seine Rede in Dakar im Jahr 2007, aber sie klang, als stammte sie aus dem Jahr 1907.
Gab es in Afrika Reaktionen auf Eure Arbeit, Eure CD, Euer Stück?
Wir haben Kontakte in Marokko und der Elfenbeinküste, unsere CD ist auch im Senegal schon ein wenig bekannt und es gibt einige begeisterte Rückmeldungen von dort. Im Frühjahr 2009 haben wir das Stück beim Theaterfestival in Rabat auch erstmals in Afrika aufgeführt. Es waren etwa 300 ZuschauerInnen im Saal und es gab ähnlich bewegte und bewegende Reaktionen wie in Frankreich. Wir haben viele junge KünstlerInnen, MusikerInnen und SchauspielerInnen kennen gelernt und wollen Anfang 2010 für einen längeren Zeitraum nach Marokko reisen, um eine langfristige Zusammenarbeit zu begründen. Dabei wollen wir auch das Thema der Kolonialsoldaten weiter verfolgen in Kooperation mit den Verbänden von Veteranen, die es dort – wie überall in Afrika – gibt.
Die Compagnie Mémoires Vives hat inzwischen auch ein weiteres Stück inszeniert…
„A nos morts“ war der erste Teil einer Trilogie zur Kolonialgeschichte. Das zweite Stück trägt den Titel „Folies colonies“ und darin geht es um die „Kongo-Konferenz“ von 1884/85, bei der die europäischen Mächte, das Osmanische Reich und die USA Afrika unter sich aufgeteilt haben. Diese Konferenz fand in Berlin statt. Deshalb freuen wir uns, im September 2009 im Begleitprogramm der Ausstellung über „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ mit der deutschen Fassung von „A Nos Morts“ („Die vergessenen Befreier“) erstmals auch in Berlin auftreten zu können. Wir hoffen sehr, dass weitere Aufführungen in Deutschland folgen werden.
Das Interview beruht auf Gesprächen, die Karl Rössel vom Rheinischen JournalistInnenbüro (Köln) im Dezember 2008 und im Mai 2009 mit Yan Gilg in Straßburg geführt hat. Transkription und Übersetzung aus dem Französischen: Sebastian Schmidt.