Redebeitrag zur Eröffnung der Ausstellung in Berlin

Am 1. September 2009 in den Uferhallen (Berlin-Wedding)
von Karl Rössel (Recherche International e.V./Rheinisches JournalistInnenbüro, Köln)

Der Weg bis zur Realisierung dieser Ausstellung war lang und führte noch auf der Zielgeraden in der letzten Woche hier in Berlin über unerwartete Hindernisse von Neukölln in den Wedding, um Zensurversuchen in der Werkstatt der Kulturen zu begegnen. Den Betreibern der Uferhallen, die uns hier spontan Asyl geboten haben, und den zahlreichen Helferinnen und Helfern von AfricAvenir, dem Korea-Verband und der Berliner Gruppe der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO), die in einem extremen Kraftakt in nur wenigen Tagen aus dieser vor einer Woche noch komplett leeren Halle einen präsentablen Ausstellungs- und Veranstaltungsraum gezaubert haben, gehört mein erster und ganz besonderer Dank. Stellvertretend für alle sei hier nur Ivalu Hildmann genannt, die die Aufbauarbeien koordiniert hat.

Mein zweiter Dank geht an Professor Kum’a Ndumbe III, der den weitesten Anreiseweg nach Berlin auf sich genommen hat und direkt aus Kamerun angereist ist. Er begleitet unser Projekt schon seit einigen Jahren, hat das Vorwort zu unserem Buch verfasst, eröffnet jetzt auch diese Ausstellung, in der wir ihm – auf einer Tafel des Epilogs – auch das letzte Wort gegeben haben unter der Überschrift „Das Recht auf Erinnerung“. Wir danken ihm für sein anhaltendes Engagement bei dem Versuch, auch an verdrängte und verschwiegene historische Fakten zu erinnern.

Auch vor Berlin war der Weg dieses Projektes keineswegs unbeschwerlich. Er führte uns rund um den Globus und in 30 Länder Afrikas, Asiens und Ozeaniens, um Stimmen, Erfahrungen und Meinungen von Menschen aus der sogenannten Dritten Welt zu sammeln und aufzuzeichnen, die zur Befreiung der Welt vom deutschen und italienischen Faschismus und vom japanischen Großmachtwahn beigetragen haben.

Der Ausgangspunkt dieses Projekts liegt zeitlich fast ein Vierteljahrhundert zurück. Es war Mitte der achtziger Jahre, als wir im Rheinischen Journalistenbüro in Köln, einem Kollektiv freier Journalisten, in dem ich noch heute arbeite, an einem Buch über die Geschichte der Dritte Welt-Bewegung in der Bundesrepublik arbeiteten. Darin gingen wir den Konjunkturen der Solidaritätsarbeit von der Unterstützung des algerischen Befreiungskampfes in den 1950er Jahren über die Protestbewegungen gegen den Vietnam-Krieg und den Militärputsch in Chile in den 60ern und 70ern, bis zur Unterstützung der Sandinisten und den Kampagnen gegen das südafrikanische Apartheids-Regime in den 1980er Jahren nach.

Bei den Arbeiten an diesem Buch fiel uns auf, dass sämtliche Aktionsformen, die Initiativen hierzulande in Solidarität mit Ländern und Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt nutzten, während des Zweiten Weltkriegs umgekehrt in Ländern der Dritten Welt praktiziert wurden, um den antifaschistischen Widerstand in Deutschland und Europa zu unterstützen. So gab es in den 1930er Jahren in Buenos Aires und Manila Boykottkampagnen gegen deutsche und italienische Waren, so wie später zu Südafrika. Der Aufruf „Waffen für El Salvador“, mit dem Solidaritätsgruppen hierzulande Sammlungen für die dortige Befreiungsbewegung durchführten, hatte einen Vorläufer in Kuba, wo Arbeiter während des Zweiten Weltkriegs unter dem Motto „Waffen für die Rote Armee“ Geld für den antifaschistische Kriegsallianz in Europa sammelten. Und während die Nicaragua-Solidarität Kaffee-Brigadisten nach Mittelamerika schickte, waren Ende der 1930er Jahre Brigadisten aus Afrika, Asien und Lateinamerika nach Spanien gekommen, um mit der Waffen in der Hand gegen den Faschismus zu kämpfen. 1944 hatten nahezu alle Länder der Dritten Welt, die bereits unabhängig waren, Deutschland den Krieg erklärt und die kriegführenden Mächte hatten all ihre Kolonien in den Krieg mit einbezogen.

Fakten wie diese schrieben wir 1985 in die Einleitung unseres Buchs über die hiesige Dritte-Welt-Bewegung, um darauf zu verweisen, dass internationale Solidarität historisch keineswegs nur einseitig vom Norden für den Süden geübt wurde, sondern während des Zweiten Weltkriegs unter Einsatz ungleich höherer Opfer umgekehrt praktiziert worden war. In diesem Kontext wollten wir auch an die Soldaten aus der Dritten Welt erinnern, die im Zweiten Weltkrieg für unsere Befreiung gekämpft hatten und gestorben sind. Wir waren bei Recherche-Reisen in Afrika, Asien und Ozeanien auf Veteranen gestoßen, die uns von ihren Kriegserlebnissen erzählt hatten. Auch in afrikanischen Filmen und asiatischen Romanen waren auf das Thema gestoßen. Als wir jedoch damals nachschlagen wollten, wie viele (Kolonial-) Soldaten im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Alliierten gekämpft hatten, fanden wir in der hiesigen Literatur nicht eine einzige zuverlässige Angabe darüber.

Auch die Opfer aus der Dritten Welt kamen in den Statistiken über den Zweiten Weltkriegs schlichtweg nicht vor. In diesen waren stets die etwa 20 Millionen Opfer in der Sowjetunion und die ca. 5,5 Millionen in Deutschland aufgelistet, gefolgt von Opferzahlen aus Frankreich, Großbritannien, Italien, den USA und Japan, manchmal bis hin zu den 1.600 Toten in Dänemark. Aber über Kriegsopfer in der Dritten Welt fand sich nichts.

Diese Ausblendung weiter Teile der Welt in der Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg empfanden wir schon damals als so ungeheuerlich, dass wir uns die vornahmen, den Versuch zu unternehmen, daran etwas zu ändern. Ab 1996 haben wir die Recherchen zu diesem Thema systematisiert und in Afrika, Asien und Ozeanien Interviews mit Zeitzeugen und Historikern geführt, Biographien von Veteranen gesammelt, Dokumentar- und Spielfilme zum Thema, Romane und Sachbücher, Fotos, Archivmaterialien und historische Dokumente.

Dabei zeigte sich schnell, dass die hierzulande vergessene Beteiligung der Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg in den betroffenen Ländern selbst sehr präsent und teilweise bereits erstaunlich systematisch aufgearbeitet war.

So gibt es z.B. in nahezu jeder größeren afrikanischen Stadt ein Haus, in dem sich Veteranen aus den Kolonialarmeen treffen. In den ehemals französischen Kolonien heißen sie „Maison d’anciens combattants“, in den britischen „Veterans-Clubs“. Am Rande der philippinischen Hauptstadt Manila gibt es ein soziales Zentrum für ehemalige Partisanen, die gegen die japanischen Besatzer gekämpft haben. In vielen asiatischen Ländern haben Frauen, die im Zweiten Weltkrieg von der japanischen Armee in deren Militärbordelle verschleppt worden waren, Selbsthilfegruppen gegründet, die in einem internationalen Netzwerk zusammen arbeiten. Und in Ozeanien hatten Historiker der Universität des Südpazifiks schon in den achtziger Jahren Oral-History-Konferenzen über Kriegserfahrungen von Insulanern durchgeführt, die in umfangreichen Publikationen in Englisch und Pidgin dokumentiert sind. Allein auf den Inseln Vanuatus hatten einheimische Feldforscher über Jahre hinweg Hunderte von Interviews mit Zeitzeugnisse über den Zweiten Weltkrieg aufgezeichnet, die auf Kassetten im Archiv des Kulturzentrums in der Inselhauptstadt Port Villa lagern. Überall, wo wir recherchierten, trafen wir Zeitzeugen, die uns bereitwillig von ihren Erfahrungen berichteten und uns darum baten, diese endlich auch in den Ländern, die den Krieg verschuldet und geführt hatten, bekannt zu machen.

Wir haben uns bei der Arbeit an diesem Projekt von Anfang an als Übersetzer und Vermittler dieser vergessenen Befreier und Zeitzeugen verstanden. Deshalb sind die Hörstationen mit Original-Aufnahmen von Zeitzeugen aus den verschiedensten Länden und Kontinenten auch ein wichtiger Bestandteil dieser Ausstellung. So weit irgend möglich haben wir in den jeweiligen Ländern auch einheimische Historiker zu Rate gezogen. Wir wollten keine Geschichtsschreibung aus weißer, europäischer Sicht, sondern haben z.B. Joseph Ki-Zerbo aus Burkina Faso getroffen, der die erste Geschichte Afrikas aus afrikanischer Sicht geschrieben hatte und der beim Interview in Ouagadougou den Zweiten Weltkrieg als „größten historischen Einschnitt für Afrika seit dem Sklavenhandel“ bezeichnete. Sie finden das Zitat in der Afrika-Abteilung der Ausstellung.

In Manila trafen wir Ricardo Trota José von der Universität der Philippinen, der seit Jahren zu den Folgen der japanischen Besatzungszeit forscht und uns das erschreckende Ergebnis mitteilte, dass in seinem Land jeder 16. in diesem Krieg umgekommen war, insgesamt 1,1 Millionen Menschen. In Hongkong führte uns der chinesische Historiker Tim Ko durch ein Museum zu den Folgen des Zweiten Weltkriegs und aus Nanking brachte uns eine befreundete Sinologin Augenzeugenberichte von Überlebenden des Massakers mit, bei dem die japanischen Truppen innerhalb weniger Wochen mehr als 300.000 Chinesinnen und Chinesen abschlachteten. Berichte, die im Rahmen unseres Projekts erstmals in deutsche übersetzt wurden.

Das Massaker von Nanking ereignete sich Ende 1937, Anfang 1938, also zu einem Zeitpunkt, wo nach hiesiger Lesart der Zweite Weltkrieg noch gar nicht begonnen hatte. Tatsächlich sind viele der historischen Koordinaten, mit denen hierzulande der Zweite Weltkrieg beschrieben wird, fragwürdig, wenn nicht sogar falsch. Dazu gehört auch dessen Terminierung. Am 1. September 1939, also genau heute vor 70 Jahren, begann der Krieg lediglich in Europa. Nicht nur in Asien war er längst im Gange und hatte in China bereits Millionen Tote gefordert. Auch in Afrika herrschte bereits seit dem italienischen Überfall auf Äthiopien im Oktober 1935 Krieg –  ein Krieg, in dem bis zur italienischen Kapitulation im Jahre 1941 Soldaten aus 17 Ländern und drei Kontinenten teilnahmen, der aber wohl deshalb nicht als Weltkrieg firmiert, weil er nicht in Europa stattfand, sondern in Afrika.

Die Ignoranz der hiesigen Geschichtsschreibung gegenüber den Kriegsfolgen auf anderen Kontinenten dokumentieren wir in diese Ausstellung anhand einiger prototypischen Beispiele auf Tafeln mit dem Titel „Verdrehte Geschichte“.

So findet sich zum Beispiel in zahlreichen Büchern, mit denen an deutschen Schulen Geschichte gelehrt wird, bis heute der Satz, dass sich der Krieg erst mit dem Angriff der japanischen Luftwaffe auf den US-Stützpunkt Pearl Harbor „zum Weltkrieg ausgeweitet habe“. Der war im Dezember 1941 und zu diesem Zeitpunkt herrschte in Asien bereits vier Jahre Krieg, in Afrika sechs Jahre.

Der prominenteste Fernsehhistoriker der Republik, Guido Knopp, präsentierte im September 2004 einen Dokumentarfilm über „den Krieg im Pazifik“, in dem nicht ein einziger Inselbewohner in Wort oder Bild vorkam, nur japanische Kamikaze-Flieger und US-amerikanische Marine-Soldaten. Und dazu hieß es im Off-Kommentar, dass die grausamsten Schlachten im Pazifik auf – Zitat – „unbewohnten Insel“ stattgefunden hätten. Wir haben dieses Zitat in dieser Ausstellung neben die Tafel über Neuguinea gehängt, wo damals zwei Millionen Menschen lebten, die sich 1942 mit 1,8 Millionen japanischen, US-amerikanischen und australischen Soldaten konfrontiert sahen. Um ihren Krieg im hohen Gebirge dieser Insel austragen zu können, rekrutierten die Allierten und die japanischen Militärs jeweils 50.000 Einheimische, die als Träger, Kundschafter, Soldaten oder auch lebende Schutzschilde dienen mussten. Ähnlich verheerende Folgen hatte der Zweite Weltkrieg für die Bewohner der Salomon-Insel, des Zentralpazifiks und Mikronesiens. In Palau kam ein Drittel der Bewohner im Krieg ums Leben, auf Saipan stand danach nahezu kein Haus mehr und jeder Zwölfte Inselbewohner war umgekommen. Dem ZDF war all das in einer 45-minütigen Dokumentation nicht einen einzigen Satz und nicht ein einziges Bild wert.

Es ist diese Ignoranz gegenüber der außereuropäischen Geschichte des Zweiten Weltkriegs, die wir mit dieser Ausstellung und unseren Publikationen zum Thema endlich zu durchbrechen versuchen. Schließlich geht es nicht um Marginalien, sondern um die andere Hälfte der Geschichte des Zweiten Weltkriegs.

Allein China zum Beispiel hatte mehr Opfer zu beklagen als Deutschland, Japan und Italien zusammen. Wenn sich hierzulande die Nachfahren der Täter in den Vertriebenenverbänden als Opfer zu präsentieren versuchen, dann sei daran erinnert, dass der Vernichtungskrieg des deutschen Bündnispartners Japan in China 95 Millionen Vertriebene zur Folge hatte. Nicht in Berlin, Dresden oder Köln gab es die meisten Bombenopfer, sondern in der philippinischen Hauptstadt Manila, bei deren Befreiung 100.000 Zivilisten ums Leben kamen.

Von den 11 Millionen Soldaten unter britischem Kommando

stammten fünf Millionen aus Kolonien – allein Indien stellte im Zweiten Weltkrieg 2,5 Millionen Soldaten.  Auch die Streitkräfte des Freien Frankreich bestanden zeitweise mehrheitlich aus Afrikanern.

Es besteht kein Zweifel, dass die Befreiung der Welt vom deutschen und italienischen Faschismus sowie vom japanischen Größenwahn ohne die militärische, ökonomische und politische Rückendeckung durch die Dritte Welt nicht oder doch zumindest nicht in derselben Zeit hätte errungen werden können.

Aber all diese historischen Fakten werden im hiesigen Geschichtsdiskurs systematisch ausgeblendet. Das erklärt auch die Form dieser Ausstellung. Da kaum einer der genannten Fakten bekannt ist, also nur wenig vorausgesetzt werden kann, sind Texte zu den in dieser Ausstellung präsentierten 400 Fotos unverzichtbar. Wer zum Beispiel hat schon einmal von dem Massaker auf der Pazifikinsel Banaba gehört oder von den kriegsbedingten Hungerskatastrophen in Bengalen und Vietnam im Jahre 1943/44, die jeweils Millionen Tote forderten. Wer weiß, dass der Krieg auch im Pazifik nicht in Pearl Harbor, sondern mit der Bombardierung der zentralpazifischen Insel Nauru durch die deutsche Kriegsmarine begann? Wer kennt schon die Indische Legion der Deutschen Wehrmacht und weiß, dass diese 1944 in die Waffen-SS eingegliedert wurde und in Frankreich Jagd auf die Resistance machte und am Atlantikwall gegen Landsleute auf Seiten der Alliierten kämpften?

Fakten wie diese müssen erklärt und können nicht einfach mit Fotos dokumentiert werden, da diese kaum jemand einordnen könnte. Allerdings muss niemand alle Texte lesen, damit das Ziel dieser Ausstellung erreicht wird. Jede einzelne Tafel präsentiert eine in sich geschlossene Geschichte und auch wer nur wenige liest, wird rasch die Dimension dessen erkennen, was bislang verschwiegen wurde. Damit bin ich bei den Vorwürfen und Anfeindungen gegenüber diese Ausstellung, die aufgrund von Stellungnahmen von  Philippa Ebéné von der Werkstatt der Kulturen in den letzten Tagen durch die Presse geisterten, obwohl bis heute niemand die Ausstellung gesehen hat. „Textlastigkeit“ und damit lediglich interessant für Bildungsbürger lautete einer dieser Vorwürfe, den allerdings schon die Drucker widerlegt haben, die in Köln die Alutafeln für die Ausstellung digital bedruckt haben. Sie haben bei der Arbeit sämtliche Texte gelesen und waren davon so überrascht, erstaunt und bewegt, dass sie uns eine zusätzliche Schulversion der Ausstellung im kleinen flexiblen A1-Format geschenkt haben. Denn sie wollten, dass die hier präsentierten historischen Fakten endlich weitere Bekanntheit erlangen. Dank dieser Drucker verfügten wir auch hier in Berlin über eine kleine Version der Ausstellung und konnten dem Integrationsbeauftragten des Senats, als dieser zu vermitteln versuchte, vorschlagen, zumindest diese in der Werkstatt der Kulturen zu zeigen, was nach dem derzeitigen Stand ab dem 3. September auch geschehen soll. Auch MigrantInnen aus Neukölln dürften im übrigen mit dieser Ausstellung durchaus etwas anfangen können.

Allerdings sind MigrantInnen tatsächlich nicht das Zielpublikum dieser Ausstellung, da sie aufgrund eigener Erfahrungen in ihren Herkunftsländern in der Regel um die globale Dimension des Zweiten Weltkriegs sehr viel besser wissen als andere. Dies belegen die Interviews, die wir für die Ausstellung geführt haben und die unter dem Titel „Kriegserinnerungen aus der Nachbarschaft“ an einer der drei Videostationen zu sehen sind. Fast all unsere Interviewpartner mit Migrationshintergrund, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg befragten, konnten dazu eine Geschichte erzählen, egal ob sie aus Indien, Südkorea oder dem Iran, Uganda, Kamerun, Senegal, Kongo oder Gambia kamen.

Um dem eurozentristischen und damit rassistischen Geschichtsdiskurs hierzulande endlich eine globale Perspektive bedarf es deshalb vor allem einer Bewusstseinsänderung in der weißen Mehrheitsgesellschaft sowie in der von ihr dominierten historischer Forschung und Lehre an Schulen und Universitäten. Deshalb wir nach dem Buch „Unsere Opfer zählen nicht“ im letzten Jahr auch Unterrichtsmaterialien zum Thema nachgelegt haben. Im Vorfeld dieser Ausstellung haben wir diese mit einem offenen Brief auch an alle Schul- und Geschichtsbuchverlage geschickt und um Antwort gebeten, ob und wie die darin präsentierten Fakten in zukünftigen Ausgaben von Geschichtsbüchern berücksichtigt werden sollen. Der Brief und die Antworten sind im Epilog der Ausstellung nachzulesen.

Ein in der Öffentlichkeit kolportierter Vorwurf gegenüber dieser Ausstellung stimmt hingegen tatsächlich, wenn auch nicht in dem von den Kritikern intendierten Sinne: der Anteil arabischer Soldaten an der Befreiung Europas vom Faschismus wird tatsächlich nicht angemessen präsentiert. Er ist vielmehr deutlich überrepräsentiet, wie mir allerdings erst im Laufe der eigentümlichen Debatten um diese Ausstellung hier in Berlin auffiel. Schon in der ersten Video-Installation mit dem Titel „Unsere Befreier“ sind Portraits von mehr als 50 Kolonialsoldaten aus dem Maghreb zu sehen, womit ihr Anteil  im Vergleich zu chinesischen Soldaten oder philippinischen Partisanen, die in weitaus größerer Zahl auf Seiten der Alliierten gekämpft habe, deutlich übergewichtig ist. An der zweiten Video-Station ist ein Film von Rachid Bouchareb aus Algerien zu sehen, also eines arabischen Regisseurs. Eine der Hörstationen ist mit Alice Cherki einer Zeitzeugin aus dem Maghreb gewidmet, die auf unseren Vorschlag hin am 11. September auch hier in den Uferhallen auftreten wird, um über die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs für die antirassistischen Theorien Frantz Fanons zu referieren. Insgesamt ist das Begleitprogramm geradezu arabophil. Nicht nur die beiden Auftaktfilme heute Abend stammen von arabischen Regisseuren – die Dokumentation des Tunesiers Fitouri Belhiba haben wir übrigens eigens für diese Ausstellung übersetzt. Wir haben auch dafür gesorgt, dass der Spielfilm „Indigènes“ in Berlin und anderswo erstmals mit deutschen Untertiteln gezeigt werden kann. Er erzählt die Geschichte von vier arabischen Soldaten, die ihr Leben einsetzen, um Frankreich und Deutschland vom Nazi-Terror zu befreien. Drei weitere Dokumentationen in dem von uns vorgeschlagenen Berliner Begleitprogramm erzählen von den Hunderttausenden arabischen Soldaten aus Nordafrika im Zweiten Weltkrieg und auch das Hiphop-Tanztheater, für dessen Deutschland-Premiere in Berlin am 20. September wir eine deutsche Fassung mit Obertiteln auf Videoscreen erstellt haben, erinnert nicht nur an Kriegsteilnehmer aus arabischen Ländern, sondern auch die Hälfte der Darsteller sind arabische Herkunft.

Neben alledem sind die umstrittenen Tafeln über arabische Nazi-Kollaborateure deutlich untergewichtet. Darauf ganz zu verzichten, wäre jedoch historisch unakzeptabel. Uns geht es nicht um platte Heldenverehrung, auch wenn in dieser Ausstellung viele vergessene Helden in Wort und Bild vorgestellt werden und eine Gruppe von Afro-Deutschen in der dritten Videopräsentation ein Projekt vorstellt, zu dem Plakate gehören, auf denen afrikanische Kolonialsoldaten als „Helden“ präsentiert werden.

Auch unter den „People of Coulour“, um einmal diese pauschalisierende Charakerisierung von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Gesinnung aufzugreifen, gab es jedoch keineswegs nur antifaschistische Helden, sondern auch zahllose Mitläufer, Faschisten und Kollaborateure. Wer diese historischen Tatsachen zu ignorieren oder zu unterdrücken versucht, missachtet die Opfern dieser Kollaborateure. Schließlich geht es auch hier nicht um einige wenige Einzelfälle. Selbst für die Todesschwadronen der Waffen-SS, die Giftgasbrigaden der italienischen Faschisten und die Mordkommandos der japanischen Besatzer ließen sich Tausende Helfershelfer anheuern. Zehntausende meldeten sich freiwillig zur Arbeit in den Rüstungsindustrien der kriegtreibenden Mächte, Hunderttausende zum Kriegsdienst in deren Streitkräften und Millionen Menschen bejubelten deren Siege.

Die Folge dieser massenhaften Kollaboration waren Millionen Tote und wie fragwürdig die hier in Berlin um die Ausstellung geführte Debatte ist, verdeutlicht die Tatsache, dass die Opfer der weltweiten Kollaboration mehrheitlich „People of Coulour“ waren.

So arrangierten sich in Äthiopien Teile der Elite mit den italienischen Invasoren, obwohl diese schon bei ihrem Vormarsch auf Addis Abeba 150.000 Zivilisten nierder metzelten – 150.000 People of Coulour.

In Nordafrika starben Tausende Kolonialsoldaten aus Ost-, West- und Südafrika, Indien und dem Pazifik, Aborigines aus Australien und Maoris aus Neuseeland – People of Coulour – bei dem Versuch, den deutsch-italienischen Angriff auf Ägypten aufzuhalten, der von führenden Politikern und Militärs in Ägypten bejubelt wurde.

Im Maghreb unterhielten die faschistischen Mächte mehr als einhundert Lager, die von einheimischen Kollaborateuren bewacht und in denen politische Oppositionelle und Juden aus Nordafrika gequält und zu Tausenden ermordet wurden – people of coulour.

In Sinapur und Malaya meldeten sich 50.000 Inder freiwillig zum Kriegsdienst an der Seite Japans, während die japanischen Besatzer Zehntausende einheimische Chinesen niedermetzelte – People of Coulour.

Der Thailändische Militärherrscher Phibun Songkram, der Hitler und Mussolini bewunderte und sich selbst den Beinamen „Führer“ zulegte, nutzte die Allianz mit den japanischen Kriegstreibern, um selbst in Laos und Kambodscha einzufallen, um Thai heim in sein Großreich Thailand zu holen – die Opfer dieses Überfalls waren „people of coulour“.

Im westafrikanischen Dakar, in Nordafrika wie in der Levante, heute Syrien und Libanon, kämpften und starben afrikanische Kolonialsoldaten – also „people of coulour“ – auf beiden Seiten der Front, die einen rekrutiert von der Kollaborationsregierung in Vichy, die anderen für die Streitkräfte des Freien Frankreich.

Die Liste ließe sich fortführen und diese Ausstellung erinnert sehr bewusst auch an die Opfer, die es ohne Kollaborateure in der Dritten Welt nicht gegeben hätte.

Aufgrund der öffentlichen Auseinandersetzungen um dieses Thema bieten wir im übrigen am Freitag, den 18. September, um 20 Uhr eine Zusatzveranstaltung über Nazikollaborateure aus dem Nahen Osten und ihre deutschen Apologeten an, wobei es in diesem Falle auch Apologetinnen heißen können.

Zum Schluss danke ich allen, die das Konzept dieser Ausstellung, das im übrigen seit Anfang des Jahres feststeht und auch der Werkstatt der Kulturen von vor Monaten vorlag, ermöglicht und mit getragen haben. Dazu gehört als Hauptförderer die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft aus Berlin, der wir ebenso danken wie der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen und dem Evangelischen Entwicklungsdienst EED, die vor der Ausstellung auch schon die Herausgabe des Buchs und der Unterrichtsmaterialien zum Thema ermöglicht haben.

Das Langzeitprojekt und die Ausstellung sind das Ergebnis eines kollektiven Prozesses über viele Jahre, an dem zahlreiche Menschen aus mehreren Kontinenten teilgenommen haben. Es fehlt die Zeit, um sie alle zu nennen, aber ihnen allen gilt unser Dank. Stellvertretend will ich nur zwei Personen namentlich nennen und ihnen für die intensive, kreative und geduldige Zusammenarbeit an diesem Projekt danken: dem Layouter Holger Deilke, mit dem wir von der Erstellung unserer Bücher bis zur Gestaltung dieser Ausstellung ungezählte Tage und Nächte vor dem Computer verbracht haben und der mir auch bei der erzwungenen Verlegung der Ausstellung hier in Berlin in der letzten Woche rund um die Uhr zur Seite stand. Dafür tausend Dank. Und ein besonderer Dank an meine Lebensgefährtin Christa Aretz, die dieses Projekt nicht nur von der ersten Idee vor 25 Jahren bis zum heutigen Tag begleitet hat und ist auch heute wieder dabei ist, sondern auch all unsere Publikationen bis hin zu den Texten dieser Ausstellung redigiert, korrigiert und vielfach verbessert hat. Ohne ihren Rückhalt hätte ich den mit diesem Projekt verbundenen Stress kaum durchgestanden.

Last but not least bedanke ich mich bei allen, die heute Abend hierher gekommen sind, um sich selbst ein Bild von dieser Ausstellung zu machen. Ich bitte Sie darum, dazu beizutragen, dass in den nächsten Wochen nicht weiter über wirre Spekulationen, sondern über die realen Inhalte dieser Ausstellung diskutiert wird. Schließlich zielt dieses Projekt darauf ab, den historischen Diskurs über das zentrale Ereignis des Zwanzigsten Jahrhunderts endlich so zu verändern, dass nicht länger nur Europa, die USA und Japan, sondern auch der Rest der Welt in der Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg wahrgenommen werden. Dafür brauchen wir auch Ihre Unterstützung.

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