Zur Diskussion um den Begriff «Dritte Welt»

Beiträge der Antifaschistischen Linken International (A.L.I.) in Göttingen und von Karl Rössel (Recherche International/Rheinisches JournalistInnenbüro) zur Problematik und Einsetzbarkeit des Begriffs «Dritte Welt» anlässlich der Präsentation der Ausstellung in der Göttinger Alten Mensa im April/Mai 2011.

Vor der Erstellung der Ausstellung wie vor der Publikation von Buch und Unterrichtsmaterialien zum Thema wurden im Rheinischen JournalistInnenbüro Dutzende mögliche Titel für das Projekt gesammelt und diskutiert. Nach langer und sorgfältiger Debatte fiel die Wahl auf „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“, obwohl der Begriff „Dritte Welt“ – wie alle Pauschalbezeichnungen – nicht unproblematisch ist. Wie in den Einleitungen zu Buch und Unterrichtsmaterialien so wird auch im Prolog der Ausstellung auf einer gesonderten Tafel auf diese Problematik hingewiesen und auf die Tatsache, das bislang kein unproblematischer Oberbegriff gefunden wurde, der all das umfasst, was unter der Bezeichnung „Dritte Welt“ verstanden wird. Die Diskussion um diesen Begriff führt das Rheinische JournalistInnenbüro – wie die Internationalismusbewegung insgesamt – im übrigen bereits seit einem Vierteljahrhundert, nachzulesen in der Einleitung des Buches „Hoch die Internationale Solidarität“ von Werner Balsen und Karl Rössel aus dem Jahre 1986 (Kölner Volksblattverlag).
Auch rund um die Wander-Ausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ wurde und wird die Debatte um den Begriff „Dritte Welt“ weiter geführt, zum Teil allerdings reichlich unsolidarisch wie von den Verantwortlichen der Berliner Werkstatt der Kulturen in Neukölln, die bei der Premiere der Ausstellung im September 2009  die Tafeln über arabische Nazikollaborateure zensieren wollten und als sie mit diesem Vorhaben scheiterten  den Begriff „Dritte Welt“ öffentlich als Vorwand nutzten, um das gesamte Projekt zu denunzieren. (Dabei hatten der Werkstatt in Neukölln ein Jahr zuvor bereits der Titel der Ausstellung wie auch die Publikationen dazu vorgelegen, ohne dass irgendjemand daran Anstoß genommen hatte und die Ausstellung war unter diesem Titel auch auf der Internetseite der Werkstatt bereits angekündigt, bevor sie – um den Zensurversuchen zu begegnen – in die Weddinger Uferhallen verlegt werden musste.)
Dass Kritik auch konstruktiv formuliert und darüber solidarisch diskutiert werden kann, zeigt das Beispiel der Antifaschistischen Linken International (A.L.I.) in Göttingen.
Begleitend zur Präsentation der Ausstellung in Göttingen publizierte die A.L.I. im März 2011 einen Aufruf „Befreiung gegen Faschismus und Kolonialismus“. In dem zwölfseitigen Papier findet sich der Vorschlag, den Begriff „Dritte Welt“ durch „Trikont und Ozeanien“ zu ersetzen.
In seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung in der Göttinger Alten Mensa antwortete Karl Rössel vom Rheinischen JournalistInnenbüro darauf und begründete, warum er den Begriff „Dritte Welt“, verstanden als politischer Kampfbegriff im Sinne Frantz Fanons, weiterhin für passender hält.
Wir dokumentieren im Folgenden beiden Beiträge:

„Trikont und Ozeanien“ statt „Dritte Welt“
Auszug aus dem Aufruf: „Befreiung von Faschismus und Kolonialismus“ der A.I.L. von April 2011:
„Der Begriff ‚Dritte Welt’ war ursprünglich ein Kampfbegriff z.B. Frantz Fanons, der damit das weltweite hierarchische Machtgefälle bezeichnet hat. Wir sprechen allerdings von einer anderen Position aus. In Europa benutzt steht der Begriff im Kontext der Modernisierungstheorie die besagt, dass sich Länder der ‚Dritten Welt’ in ‚westliche’, kapitalistische Richtung ‚entwickeln’ sollen. Deshalb lehnen wir den Begriff ab und ziehen ‚Trikont und Ozeanien’ vor. ‚Trikont’ bezeichnet aus antikolonialer Perspektive die Kontinente Asien, Lateinamerika und Afrika. Er bezieht sich auf die ‚Trikontinentale-Konferenz’ 1966 in Havana/Cuba, auf der über Dekolonisierung beraten wurde. In der Frage der Mittel wurde sich für militanten Widerstand entschieden. Che Guevara verfasste 1967 eine Botschaft an die Konferenz, die zum bewaffneten Kampf gegen den Imperialismus, besonders die USA, aufrief. Die Botschaft war Anlass für Debatten darüber, Verbindung mit internationalen, bewaffnet kämpfenden Organisationen aufzunehmen wie der Black Panther Party, dem Vietcong, der ETA, IRA und PFLP. In West-Berlin
fand die Debatte ihren Höhepunkt auf dem Internationalen Vietnam–Kongress 1968. Dort wurde ein linksradikales Verständnis von internationaler Solidarität gegenüber dem Trikont formuliert, indem die westliche Linke aus dem ‚Herzen der Bestie’ heraus angreifen müsse.
Aus diesem politischen Bezugspunkt heraus beziehen wir uns positiv auf den Begriff ‚Trikont’. Dabei wird jedoch ein ganzer Kontinent – Ozeanien – ignoriert und muss deshalb explizit mit genannt werden. Am Genauesten ist es daher, die einzelnen Kontinente oder Regionen, über die gesprochen wird, zu benennen.“
Der komplette Text des A.I.L.-Aufrufs lässt sich hier als PDF downloaden.

„Dritte Welt“ als politischer Kampfbegriff im Sinne Frantz Fanons brauchbar
Antwort von Karl Rössel (Recherche International e.V./Rheinisches JournalistInnenbüro) auf den Vorschlag der A.L.I. (Antifaschistische Linke International) in seiner Rede zur  Eröffnung der Ausstellung am 1. April 2011 in Göttingen:

In den Begleittexten der Antifa wird auch der Begriff «Dritte Welt» im Titel der Ausstellung problematisiert. Tatsächlich ist dieser Begriff – wie auch wir im Prolog der Ausstellung und in unseren Büchern einräumen – nicht unumstritten, da er unterschiedlichste Länder von Afrika bis in den Pazifik als Einheit behandelt und sie sprachlich zwei Stellen unter der «Ersten Welt» einordnet. Ich hoffe, es klingt nicht unbescheiden, wenn ich darauf verweise, dass wir auf dieses Problem schon in unserem bereits erwähnten Internationalismusbuch Mitte der 1980er Jahre hingewiesen haben.
Wenn dieser Begriff in dieser Ausstellung dennoch benutzt wird, dann zum einen deshalb, weil es nach unserer Kenntnis bislang keine unstrittigen Alternative dazu gibt. Auch Bezeichnungen wie «Peripherie» erheben die «Metropolen» sprachlich über den Rest der Welt und wer von «Entwicklungsländern» redet, müsste zunächst die Frage beantworten, wer sich warum und wohin «entwickeln» sollte. Vom «Globalen Süden» im Gegensatz zu den Industrienationen des «Nordens» zu sprechen, wäre geografisch unrichtig, weil einige Länder, um die es in dieser Ausstellung geht, zur nördlichen Hemisphäre gehören. Auch geht es nicht nur um „Kolonialisierte“, da zentrale Schauplätze des Zweiten Weltkriegs wie China, Thailand und Äthiopien keine Kolonien waren. Auch weite Teile Lateinamerikas waren damals bereits unabhängig, zahlten jedoch aufgrund billiger Rohstofflieferungen für die Rüstungsproduktion der kriegführenden Mächte trotzdem einen hohen Preis in diesem Krieg.
Der Begriff «Trikont» mag zwar auf Che Guevaras „trikontinentale“ Konferenz von Befreiungsbewegungen zurück gehen, umfasst aber nur die drei (tri-!) Kontinente Afrika, Asien und Lateinamerika und schließt mit Ozeanien ein Drittel der Welt aus, dem ein wesentlicher Teil dieser Ausstellung gewidmet ist.
Nun ist die Göttinger Antifa auf die Idee gekommen, den Begriff „Dritte Welt“ durch „Trikont und Ozeanien“ zu ersetzen. Das kann mensch natürlich so halten, doch ich will kurz begründen, warum ich den Oberbegriff „Dritte Welt“ nach wie vor für unser Projekt für angemessener halte. Wir verstehen diesen Begriff nicht – wie es in den Göttinger Begleitmaterialien heißt – als Ausdruck europäischer Anmaßung „im Kontext der Modernisierungstheorie, die besagt, dass sich Länder der ‚Dritten Welt’ in ‚westliche’, kapitalistische Richtung ‚entwickeln’ sollen“. Sondern wir glauben, dass „Dritte Welt“ auch heute durchaus noch als politischer Kampfbegriff in Sinne Frantz Fanons verwandt und verstanden werden kann. Tatsächlich entstand dieser Begriff in Anlehnung an den „dritten Stand“ der Unterdrückten im feudalen Frankreich und es war Frantz Fanon, der ihn in seinem berühmten Buch „Die Verdammten dieser Erde“ in die internationalistische Debatte eingeführt hat. Fanon argumentiert durchweg mit diesem Begriff und schreibt zum Beispiel in seiner Schlussfolgerung: „Die Dritte Welt steht heute als eine kolossale Masse Europa gegenüber; ihr Ziel muss es sein, die Probleme zu lösen, die dieses Europa nicht hat lösen können.“
Eine Analyse, die meiner Meinung nach nichts von Ihrer Aktualität verloren hat und mit der sich Fanon keineswegs nur an die Kolonialisierten im Trikont und Ozeanien wendete, sondern z.B. auch an die Marginalisierten in Industrienationen wie den USA. Fanon charakterisiert die Vereinigten Staaten als eine „ehemalige europäische Kolonie“, die sich in zwei Jahrhunderten zu einem „Monstrum“ entwickelt habe, „bei dem die Geburtshelfer, die Krankheiten und die Unmenschlichkeiten Europas grauenhafte Dimensionen angenommen haben.“
Opfer dieser Entwicklung verortete Fanon somit auch in den USA selbst und  tatsächlich sind auch wir bei den Recherchen für unser Projekt darauf gestoßen. Wenn auch nicht in der Ausstellung, so erinnern wir doch in einem Kapitel unseres Buchs daran, dass 1,2 Millionen Afroamerikaner, 40.000 bis 70.000 Native Americans und 250.000 bis 500.000 Einwanderer lateinamerikanischer Abstammung im Zweiten Weltkrieg in den US-Streitkräften Kriegsdienste leisteten.
Zeitweise wurde für diese indigenen bzw. migrantischen Bevölkerungen auch Begriffe wie „Dritte Welt in der Ersten“ oder gar „Vierte Welt“ verwendet. Unter „Trikont und Ozeanien“ lassen sie sich jedenfalls nicht fassen. So bitte ich denn um Verständnis dafür, dass wir bis auf weiteres den Begriff „Dritte Welt“ weiter nutzen, zumal er keineswegs automatisch abwertend verstanden werden muss, sondern auch als eine Art Klassenbegriff auf internationaler Ebene gelten kann, als ein Begriff, der Macht- und Ausbeutungsverhältnisse beschreibt und die Summe all derjenigen, die davon betroffen sind und dagegen ankämpfen müssen, um sie zu überwinden.
In diesem Fanonschen Sinne verstanden, halte ich den Begriff „Dritte Welt“ weiterhin für brauchbar. Aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren, wenn ein neuer Oberbegriff gefunden wird. Wir suchen seit 25 Jahren vergeblich danach.
Der komplette Text der Eröffnungsrede von Karl Rössel findet sich hier.

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